Kesrith – die sterbende Sonne
Niun, der seinen Vetter begleitete, enthielt dieser Duft von Weihrauch seine eigenen Erinnerungen – Erinnerungen an das Kath und das Beobachten der heiligen Riten von jenem letzten, äußersten Zimmer aus, als sie alle, Melein und Medai und andere, die nicht mehr lebten und von deren Tod er wußte, noch Kinder gewesen waren. Von diesem Außenzimmer aus war ihnen der Schrein des Kel geheimnisvoll und glanzvoll erschienen, ein Territorium, in das sie sich noch nicht wagen durften und in dem sich Krieger in ihren Sigai bewegen und das Kath verachten mochten.
Sein Geist bewegte sich weiter zu einem späteren Tag, als sie drei unter die schwarzen Gewänder aufgenommen wurden, eins mit dem Kel wurden, und man ihnen zum erstenmal erlaubt hatte, den mittleren Schrein zu betreten und zu erkennen, daß zwischen ihnen und den Pana – den Mysterien – noch eine weitere Barriere lag; und zu einem noch späteren Tag, an dem sie für das Wohlergehen Medais gebetet hatten, der das Edun verließ und in Dienst trat, in höchstem Maße geehrt... und Niun war in jener Nacht vor Eifersucht und Bitterkeit innerlich gestorben, seine Gebete waren unehrlich und haßerfüllt gewesen und mit Gedanken durchmischt, die jetzt wie Geister der Schuld zurückkehrten.
Jetzt empfand er nichts anderes als damals. Wieder war Medai fortgegangen und hatte ihn der Häßlichkeit und Einsamkeit von Kesrith überlassen.
Medai hatte niemals die Dinge durchgemacht, die er durchgemacht hatte – hier zurückgelassen als letzter Hüter des Hauses, ein Diener der anderen.
Medai hatte man für das, was er getan hatte, als großen Kel'en erachtet.
In der schwach sichtbaren Heiligkeit jenseits des Schirmes raschelten Gewänder, dort, wo sich das Sen versammelte und sich um die Heiligen Gegenstände kümmerte. Melein und Sathell würden dort sein.
Vor einem Zeitalter hatten drei Kinder in der äußeren Kath-Halle gestanden und sich nach Ehre gesehnt, und ihre Gebete hatten sich auf seltsame und verschlungene Weise erfüllt: für Niun im Kel-Schrein, nach dem sie sich alle gesehnt hatten; für Medai in den Ehren eines Krieges, der neuerdings in der Dunkelheit wanderte; und Melein, Melein die Leichtherzige, war durch den Kel-Schrein hindurch an den dahinterliegenden Ort gegangen, zu den Mysterien, die ein Kel'en niemals sehen durfte.
Zitternd vor Zorn und Enttäuschung beugte Niun sich tief herab und verblieb so für einige Zeit, wobei er versuchte, den Atem zurückzuhalten und sich zu sammeln.
Eine Hand berührte seine Schulter. Ein dunkles Gewand streifte ihn wie ein Schatten, als Eddan neben ihm niedersank. »Niun«, sagte der Kel'anth mit weicher Stimme, »die She'pan ruft nach dir. Sie möchte nicht, daß du hier Wache hältst. Sie will, daß du zu ihr kommst und diese Nacht bei ihr sitzt und nicht zum Begräbnis gehst.«
Niun brauchte einen Moment, um sich seiner Stimme sicher zu sein. »Ich glaube nicht«, sagte er nach einem Augenblick, »daß sie nicht einmal hierzu auf mich verzichten kann. Was hat sie gesagt? Hat sie keinen Grund genannt?«
»Sie möchte, daß du kommst, jetzt.«
Er war durch diese Haltung wie betäubt. Zwischen ihm und Medai hatte es keine Liebe gegeben, was die She'pan nur zu gut wußte. Aber was sie jetzt öffentlich von ihm forderte, war nicht anständig. »Nein«, sagte er, »nein, ich werde nicht zu ihr gehen.«
Finger gruben sich in seine Schulter. Er erwartete eine Zurechtweisung, als er aufblickte. Aber der alte Mann entschleierte sich vor ihm, und sein nacktes Gesicht zeigte keinen Zorn. »Ich habe erwartet, daß du das sagen würdest«, meinte Eddan. Für Niun war das unglaublich, denn er selbst hatte es nicht gewußt, sondern impulsiv gesprochen. Der alte Mann kannte ihn jedoch gut genug. »Tu, was du für richtig hältst«, fuhr Eddan fort. »Bleib hier. Ich verbiete es dir nicht.«
Und der alte Mann stand auf und gab den anderen, die mit ihren verschiedenen Aufgaben beschäftigt waren, Anweisungen. Einer brachte die vom Sen überreichten Ritualgefäße für das Begräbnis und setzte sie vor Medais Füßen ab. Pasev brachte Wasser und Dahacha Tücher zum Waschen; und Palazi füllte die Lampen für die lange Wache. Debas pfiff sanft nach den Dusei und führte sie aus der äußeren Halle weg in den Turm des Kel, damit sie die Feierlichkeiten nicht störten. Inmitten all dieser Aktivität saß Niun und bemerkte schließlich, daß er sich bei dem hastigen Abstieg von den Hügeln das Gewand zerrissen hatte, daß er
Weitere Kostenlose Bücher