Ketchuprote Wolken

darauf zu wie Falter, die zum Licht fliegen, und ich war mitten unter ihnen und entfaltete zum ersten Mal seit Wochen meine Flügel. Lauren saß auf einer Bank, und ich schlich mich an, piekte sie in die Seiten und schrie dabei BUH , und sie kreischte schrill und schrie laut SCHEISSE ! Das Wort verhallte, weil hier so viel Platz war, ein ganzer Kosmos eigentlich, der erforscht sein wollte. Ich setzte mich zu ihr, und wir quatschten Ewigkeiten und futterten Zuckerwatte, während die Flammen die Nacht golden färbten.
    Dann bekam ich Durst wegen des vielen Zuckers und zog los, um Wasser zu besorgen, während Lauren die Bank hütete. Am Flussufer gab es Buden, in denen T-Shirts und Schmuck und Spielzeug verkauft wurden. Das Wasser rauschte, und Rauchschwaden zogen durch die Luft, und die Händler priesen ihre Ware an. Ich schaute mich nach einem Getränkestand um, als ein Mann mit Bart mir einen roten Spielzeug-Ferrari vor die Nase hielt. Weil das Dads Traumauto war, kaufte ich es, um ihn ein bisschen zu trösten, weil er sich doch wegen Großvater so viele Sorgen machte.
    Als ich dem Mann das Geld reichte und kurz beiseiteschaute, entdeckte ich plötzlich den blonden Jungen mit den braunen Augen am Feuer. Ich weiß übrigens, dass ich jetzt die Spannung ganz anders aufbauen könnte, mit kurzen Sätzen und Pausen und Anspielungen, wie wir es in Englisch gelernt haben. Aber es geht hier eben um das wahre Leben, nicht um eine erfundene Geschichte, Mr Harris, und deshalb will ich es so erzählen, wie es sich ereignet hat. Im wahren Leben steigern sich die Ereignisse nicht hübsch ordentlich zu einem dramatischen Höhepunkt. Sondern sie passieren einfach so, aus heiterem Himmel, und es gibt auch keine Vorwarnung. So wie damals, als Dad den Hund überfahren hat.
    In einem Roman hätte es zweifellos ein paar Beinahe-Unfälle gegeben, um auf das kommende Ereignis zu verweisen. Und vielleicht sogar Gebell, bevor Dad um die Ecke bog, um anzudeuten, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. Aber im wahren Leben war Dad auf dem Heimweg vom Supermarkt nach Hause, und die Sonne schien, und im Radio lief Dancing Queen, als er über eine Temposchwelle fuhr, die in Wirklichkeit ein Schäferhund war. Und so war das auch an dem Abend. Kein dramatischer Aufbau. Keine Vorwarnung. Im einen Moment reichte ich dem Verkäufer das Geld, und im nächsten Moment sah ich den Jungen mit den braunen Augen. Einfach so.
    »Dein Auto.«
    »Was?«
    Der Mann hielt mir den Ferrari hin. »Dein Auto.«
    Ich steckte es in die Hosentasche, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen. Er trug ein T-Shirt mit weißer Schrift auf der Vorderseite und starrte gedankenverloren in die Flammen. Ich stellte mir eine Gedankenwolke über seinem Kopf vor, in die ich mich Hals über Kopf hineinstürzte. Ich vergaß meinen Durst. Ich vergaß Lauren. Mein Herz hämmerte, als ich zum Feuer eilte und mich vorbeidrängte an einem Vater mit einem kleinen Mädchen auf den Schultern und einer Frau mit einem Pudel in einem dieser Hundemäntelchen mit Schottenkaro.

    Funken sprühten, bernsteingelb glimmend, und wurden über den Flammen schwarz.
    »Soll ich ihn reinwerfen?«, schrie jemand. Die Menge johlte. Ein Mann hielt eine Guy-Fawkes-Puppe mit einer Halloween-Maske hoch. Die Beine steckten in einer schwarzen Hose, die Arme in einer Strickjacke. »Soll ich ihn reinwerfen?«, schrie der Mann noch lauter. Das kleine Mädchen klatschte in die Hände, und sogar der Pudel wedelte mit dem Schwanz.
    Der Junge mit den braunen Augen gähnte und schaute weg. Ich schob mich weiter nach vorn, damit er mich bemerkte . Der Mann packte die Guy-Fawkes-Puppe an einem Arm und einem Bein und schwenkte sie in Richtung Feuer. Der Kopf berührte die Flammen, und ich zuckte zusammen, als die Menge grölte.
    »Eins …« Die Leute reckten den Hals, um besser sehen zu können. »Zwei …« Jetzt stimmten die anderen ins Zählen ein. » Drei!« Das Feuer loderte auf. Und genau in dem Augenblick, in dem die Puppe von den Flammen verschlungen wurde, wandte sich der Junge vom Feuer ab und blickte mir direkt ins Gesicht.
    Auf seinem T-Shirt stand Rettet Guy Fawkes . Fünf Sekunden lang starrten wir uns stumm an. Dann lächelte der Junge.
    »Hi.« Dieses eine Wort katapultierte mich in die Lüfte. Das Feuer existierte nicht mehr. Die anderen Menschen auch nicht. Nur ich und dieser Junge und unsere leuchtenden Augen im Zentrum des Universums.
    »Tolles T-Shirt«, sagte ich schließlich. »Mir tut Guy Fawkes