Ketchuprote Wolken
dass die beiden jetzt zu einem Scheidungsanwalt gingen, Mr Harris. Mir wurde ganz flau, und ich musste mich auf die Treppe setzen. Ich wusste nämlich genau, was jetzt passieren würde. Das hatte ich von anderen aus der Schule gehört. Dad würde sich eine eigene Wohnung nehmen und jeden Abend Fischstäbchen essen und vergessen, Spülmittel einzukaufen, so dass es keine sauberen Messer mehr gab und man die Butter mit der Rückseite eines Löffels aufs Brot streichen musste. Und Mum würde zwanzig Kilo zunehmen und nur noch auf der Couch liegen und im Fernsehen Dokus über Frauen anschauen, die früher mal Männer waren. Genauso lief das nämlich bei Laurens Mutter, bis es Lauren reichte und sie den Fernseher ausschaltete, bevor Bobs neue Brüste gezeigt wurden. Erst war Laurens Mum sauer, aber irgendwie hatte die Aktion sie wachgerüttelt, und sie nahm ab, indem sie nur Proteine aß, und ging dann in einer Jeans von Lauren, Größe 38, zu einer Verabredung mit einem jüngeren Mann.
Ich starrte auf meine eigene Jeans, die zum Trocknen auf der Heizung lagen. So was durfte mit meiner Familie nicht passieren. Ich schlich ins Schlafzimmer meiner Eltern und fing an, Mums Nachttisch zu durchsuchen, um herauszufinden, was hier vor sich ging. In der obersten Schublade fand ich eine Schmuckschatulle. Der Schlüssel steckte im Schloss. Ich horchte noch mal, ob die Luft rein war, und drehte den Schlüs sel dann um. Die Schatulle ging auf. Darin befanden sich Babyhaare von mir und Soph in Plastikhüllen, Abdrücke von unseren winzigen Füßen und die Armbänder, die wir bei unserer Geburt im Krankenhaus bekommen hatten. Dots Babysachen waren wohl anderswo, doch ich suchte nicht weiter danach, weil ich unter einem Säckchen mit meinem ersten Zahn einen vergilbten Brief entdeckte.
Dads Handschrift, aber verblasst. Ich weiß den Text nicht mehr genau. Es war ziemlich kitschiges Zeug über Mums blonde Haare, die sich wie goldene Seide anfühlten, und ihre grünen Augen, die wie stille Felsteiche aussahen, und ihre Energie, die so hell wie Sternenlicht strahlte und jede Dunkelheit erhellte. Die Mum, die ich kannte, achtete nur darauf, dass wir Essen ohne künstliche Zusatzstoffe bekamen, dass keine roten Socken mit den weißen T-Shirts gewaschen wurden und dass wir alle unsere Vitamine einnahmen. Es machte mich irgendwie traurig, dass ich diese andere Frau nie erlebt hatte. Rasch legte ich alles wieder zurück und öffnete die nächste Schublade.
Haufenweise Zeug über Cochleaimplantate, ausgedruckt aus dem Internet, teilweise mit rosa Marker unterstrichen. Darunter ein Brief von der Bank, in dem etwas von einer Refinanzierung stand. Refinanzierung . Ich hatte das Wort noch nie gehört, aber der Brief sah irgendwie wichtig aus. Da ich das Gefühl hatte, eine Spur gefunden zu haben, lief ich ins Arbeitszimmer und setzte mich auf Sophs Schoß.
»Runter!«, schrie sie. Ich drückte noch ein bisschen, damit ich an den Computer rankam. »Ey, Zo, du bist so schwer!«
Ich fand ein Forum für Leute mittleren Alters. Jemand namens TeaCosy7 schrieb, sie ziehe es in Erwägung, um eine Veranda zu bauen. Aber was? Ich suchte weiter. Dann stellte ich fest, dass Refinanzierung bedeutete, Geld zurückzubekommen, das man in ein Haus gesteckt hatte. Wenn man eine größere Anschaffung machen wollte. Oder Geldprobleme hatte.
»Geldprobleme?«, fragte Soph, die über meine Schulter spähte. »Wer hat Geldprobleme?«
»Wir«, sagte ich fröhlich. Das war jedenfalls besser als eine Scheidung.
Wir bekamen Hunger, bevor die Eltern wieder da waren, und ich machte die Pasta warm, und wir aßen zusammen am Küchentisch. Während Soph die letzten Oliven von ihrem Teller pickte, klaute ich ihr das Handy und raste nach oben, bevor sie mich erwischen konnte. Ich sprintete ins Badezimmer, schloss ab und rief Lauren an. Soph schob einen Zettel unter der Tür durch, auf dem in Großbuchstaben DU BIST TOT stand, neben einer Zeichnung von mir mit einem Messer im Kopf. Darunter fragte sie an, ob sie sich meinen Winkelmesser leihen könnte, um ihre Mathehausaufgaben fertig zu machen. Während ich in der leeren Badewanne lag, die Füße auf dem goldfarbenen Wasserhahn, und mit Lauren quatschte, kamen Mum und Dad nach Hause.
»Komm hier runter, Zoe!«, rief Mum.
»Versprichst du mir, dass ich bei dir wohnen kann, wenn wir obdachlos sind?«, fragte ich Lauren.
»Na klar. Und wir gründen eine eigene Firma, zum Beispiel einen Hundeausführservice, den wir dann
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