Ketten der Liebe
gefunden habe?« Hatte Amy ihn unbewusst ermuntert, sich ihr zuzuwenden?
»Vielleicht eher widerwillig«, verbesserte Miss Victorine sie.
»Ich will ihn nicht mögen.« Amy glaubte, dass sie sich zänkisch genug benommen hatte, aber was wusste sie schon über Männer? Vielleicht mochten sie ausgerechnet Zankteufel.
»Das mag sein, aber bisweilen hat die Natur anderes mit uns im Sinn.«
Amy klang entfernt wie ihre hochnäsige Großmutter, als sie sagte: »Die Natur hat mir nichts zu befehlen.«
Miss Victorines Tonfall erinnerte überhaupt nicht an den von Amys Großmutter, aber sie klang trotzdem unnachgiebig, als sie antwortete: »So ist es aber nun einmal, mein Kind. Und jetzt gehen Sie hinunter und sehen nach, was er möchte. Sie müssen ja nicht ewig dort unten verweilen.«
Amy starrte auf den dunklen Kellerabgang und ergriff plötzlich die Hand der alten Dame. »Sie müssen mitkommen.«
»Wenn Sie darauf bestehen. Aber mein Knie ...« Miss Victorine zuckte zusammen. Die Gelenke schmerzen ein wenig, da ich den ganzen Tag treppauf, treppab laufen muss. Immerhin musste ich ihm schon das Frühstück, den Tee und die Abendmahlzeit bringen.«
»Dann sollten Sie besser oben bleiben. Sie haben für heute schon genug getan.« Amy wappnete sich innerlich für den Weg in den Keller und stellte sich auf den Mann ein, den sie noch am Vortag geküsst hatte.
Geküsst! Wie sollte ein einziges Wort die unvergleichlichen Freuden einfangen, die er ihr gezeigt hatte.
Und sie hatte all dies zugelassen. Vor dieser Wahrheit konnte sie sich nicht verschließen. Sie hatte sich zwar zur Wehr gesetzt, aber nur wie ein Mädchen gegen ihn gekämpft. Denn sie hatte ihn nicht ernsthaft verletzen wollen - wie lächerlich war das nun wieder? Er hingegen hatte keinen Moment gezögert, seine ganze Kraft gegen sie einzusetzen. Wehgetan hatte er ihr allerdings auch nicht, ganz im Gegenteil. Er hatte ihr Vergnügen aufgezwungen und ihr Dinge gezeigt, die sie sich nie hätte träumen lassen. Und jetzt konnte sie sich nicht vorstellen, ihm in die Augen zu schauen.
Schlimmer noch: Sie wagte nicht, einen Blick in den Spiegel zu werfen.
Amy lebte schon ein Jahr hier, aber nun musterte Miss Victorine ihren Schützling zum ersten Mal kritisch. »Ein bisschen Farbe könnte Ihnen nicht schaden.« Sie zwickte Amy leicht in die Wange.
Amy ärgerte sich über Miss Victorine und stürmte erregt davon. Doch ehe sie die Stufen hinabstieg, drehte sie sich um. »Sie haben mir nie von seiner Mutter erzählt.«
»Doch, habe ich.« Miss Victorine plusterte entrüstet die Backen auf. »Ich sagte, dass wir sie verloren.«
»Sie war nicht verloren . Sie ließ ihre Familie im Stich. Das ist zumindest das, was er mir erzählt hat.«
»Es sah danach aus, ja. Sie ging fort und wurde nie wieder gesehen. Aber ich habe nie an diese Version geglaubt.« Miss Victorines Gedanken schienen in weite Ferne gerückt zu sein. »Sie war liebevoll und immer freundlich, auch zu mir. Sie liebte ihren Jungen und den Marquess, ihren Mann.« Mit einem Mal war die alte Dame wieder in der Gegenwart. »Lady Northcliff kann unmöglich einfach so davongegangen sein.«
»Genau das habe ich auch gesagt, aber er ...«
»Stellen Sie sich bitte einmal vor, wie es für den kleinen Jungen gewesen sein muss, zu hören, dass die Leute seine Mutter für leichtfertig und unmoralisch hielten.« Miss Victorine umschloss Amys Wange mit einer Hand. »Er bekam mit, wie die Erwachsenen hässliche Gerüchte in die Welt setzten. Sie verboten ihren Kindern, mit ihm zu spielen, da sie der Ansicht waren, die Ausschweifungen der Mutter seien auch in dem Kind angelegt. Die anderen Kinder hänselten ihn und sagten ihm, wie schrecklich er doch sei, dass sogar seine Mutter vor ihm davongelaufen war.«
Amy sank das Herz. »Vermutlich hätte ich auch so etwas gesagt.«
»Oh, Amy.« Miss Victorine ließ ihre Hand sinken. »Ich liebe Sie von Herzen, aber Sie haben einen Fehler, an dem Sie arbeiten sollten. Sie sagen zu schnell, was Sie denken, und legen zu viel Eifer in Ihre Worte.«
»Ehrlichkeit zahlt sich aus.«
»Aber nicht, wenn die Worte verletzen. Und jetzt beißen Sie sich auf die Lippen, damit etwas Farbe hineinkommt, und gehen Sie zu meinem armen Jermyn.«
Als Amy die Stufen nach unten nahm, befolgte sie den Rat und grub ihre Zähne in die Lippen. Es war ihr selbst unangenehm, aber sie wollte, dass Lord Northcliff sie ansah und sich wünschte, von der Kette freizukommen.
Gleichzeitig sparte sie
Weitere Kostenlose Bücher