Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Fermis Zahlen kann Bothe sich nicht orientieren, weil der Italiener in Amerika inzwischen dem Drängen des ungarischen Quälgeists nachgegeben hat und seine Graphitversuche vom Frühjahr 1940 nicht veröffentlicht [Ber 2 :25]. Und so liegt am 20. Januar 1941 Bothes Einschätzung auf Diebners Schreibtisch. Die Messwerte von Deutschlands besten Experimentalphysiker genügen dem Reinheitsgebot der Heisenberg’schen Theorie nicht.
Georg Joos und Wilhelm Hanle gehören zwar nicht offiziell zum Uranverein, aber sie führen, unabhängig von Bothe, in Göttingen eigene Versuchreihen durch. Sie verbrennen Zucker und Kartoffelmehl und gewinnen daraus hochreinen Kohlenstoff [Kar:70]. Die Methode mag zwar auf den ersten Blick hemdsärmelig wirken, führt aber zu ganz anderen Ergebnissen als Bothes aufwändige Experimente. Aus Hanles Bericht lässt sich schließen, dass Bothe die Verunreinigungen des benutzten Graphits noch immer nicht ausreichend bei seinen Berechnungen berücksichtigt hat. Nach Ansicht der Göttinger schweben selbst im Elektrographit von Siemens noch zu viele Bor- und Cadmiumteilchen, die mit Vorliebe Neutronen schlucken [Dah:140]. Für Joos und Hanle ist hochreiner Graphit der ideale Moderator für die 38-Maschine.
Kurt Diebner liest ihren Bericht, eignet sich ihren Standpunkt jedoch nicht an. Deshalb hält er es nicht für nötig, Bothe davon in Kenntnis zu setzen. Auch Paul Harteck in Hamburg erfährt nichts. Vielleicht hätten ihm die Zahlen aus Göttingen noch einmal Schwung für einen neuen Trockeneisversuch im Winter gegeben, zumal es jetzt – Belgien sei Dank – keine Engpässe mehr beim Präparat 38 gibt. Joos’ und Hanles Plädoyer für Kohlenstoff verfehlt seine Wirkung. Diebner lehnt den Moderator Graphit jetzt kategorisch ab. Die industrielle Herstellung hochreinen Kohlenstoffs sei zu kostspielig. Offenbar will er seinen Physikern nicht zumuten, mit Güterwaggonladungen Kartoffelmehl und Zucker zu zündeln, wahrend das deutsche Volk sein Brot mit Sägemehl strecken muss. Und so trifft er die einsame Entscheidung, dass in Zukunft die Reaktorversuche des Uranvereins ausschließlich mit schwerem Wasser gemacht werden sollen, zumal dieser Moderator – laut Heisenberg – die Uranoxidmenge reduziere, was zu einer günstigeren Geometrie der 38-Maschine führen soll [Wal 1 :41]. Heisenberg hat sich mit seinem Konzept durchgesetzt.
In New York haben Fermi und Szilard dasselbe Problem wie Walther Bothe in Heidelberg. Auch der amerikanische Graphit ist mit zu vielen Borteilchen kontaminiert, die mit Vorliebe Neutronen einfangen. Seit dem 1. November 1940 ist Leo Szilard endlich an der Columbia University fest angestellt. Und so setzt er sein beachtliches Talent, anderen Menschen so lange auf die Nerven zu gehen, bis er seinen Willen bekommt, auch gleich als erste Amtshandlung ein. Die mächtigen Bosse von Union Carbon sind pikiert, als Szilard ihren angeblich hochwertigen Graphit süffisant als unbrauchbaren Mist reklamiert. Aber die Nörgelei hilft: Die Qualität wird deutlich besser. Im Sommer 1941 ist Fermi auf der Suche nach einem geeigneten Ort für sein neues Experiment. In den Pupin-Labors fällt ihm inzwischen die Decke auf den Kopf. Columbia-Dekan George Pegram stellt ihm in einem anderen Universitätsgebäude eine Halle von den Ausmaßen einer Kathedrale zur Verfügung.
Hier schichtet er eine «dicke, schwarze, schmutzige und schlüpfrige Masse» [Rho:398] aus 27 Tonnen gepresstem Graphit und sieben Tonnen Uranoxid auf. Er will das kritische Volumen eines Atommeilers finden oder zumindest eine Annäherung an die richtigen Größenordnungen. Das feuchte Uranoxidpulver muss erhitzt und anschließend in würfelförmige Weißblechbehälter von 20 Zentimetern Kantenlänge luftdicht eingeschweißt werden. Diese Behälter werden dann in ein Gefüge aus Graphitziegeln eingepasst. Für das Ausschütten der zentnerschweren Uranpulversäcke heuert Pegram spontan ein Dutzend muskulöser Footballspieler an [Rho:400], damit den schmächtigen Experimentatoren nicht schon vor dem Lunch die Puste ausgeht. Im September ist die beispiellose Materialschlacht mit einer Niederlage entschieden. Die Messwerte liegen 13 Prozent unter dem Minimum für eine Kettenreaktion.
Fermi und Anderson fragen sich, ob sie beim nächsten Versuch mehr Graphit oder mehr Uran in den Meiler stopfen sollen. Dann wollen sie auch Urankugeln zum Einsatz kommen lassen, die eine bessere Reaktorgeometrie versprechen als
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