Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
gekennzeichnet, dass das […] Element 94 in solcher Menge an einen Ort gebracht wird, zum Beispiel in eine Bombe, dass die bei der Spaltung entstehenden Neutronen in der überwiegenden Mehrzahl zur Anregung neuer Spaltungen verbraucht werden und nicht die Substanz verlassen» [Kar:75].
Weizsäckers Plutoniumpatent ohne nähere Angaben zur Konstruktion und zum Zündmechanismus zielt ins Blaue hinein. Von Segrès und Seaborgs erster Untersuchung einer kaum wägbaren Menge Plutonium in Kalifornien weiß in Berlin niemand etwas. Wenn Werner Heisenberg aber sagt, er habe «eigentlich vom September 1941 eine freie Straße zur Atombombe» vor sich gesehen [Cas:532], wird Houtermans’ Arbeit vom August ihren Teil zu dieser Einsicht beigetragen haben. Die Trennung der friedlichen von der militärischen Anwendung der Atomenergie ist eine Illusion. Wer einen funktionstüchtigen Reaktor baut, hat auch die Option auf eine Atomwaffe.
Am 22. Juni 1941 haben deutsche Soldaten die Grenze zur Sowjetunion überschritten. Mit dem «Unternehmen Barbarossa» will Hitler in Blitzkriegsmanier nun auch seinen Verbündeten Stalin besiegen und seine Vision vom Lebensraum im Osten verwirklichen. Die Operationen der deutschen Truppen in Minsk führen Mitte Juli – laut Goebbels’scher Propaganda – zur «größten Material- und Vernichtungsschlacht der Weltgeschichte». Die Siege in Russland sind unfassbar und überwältigend. Ein Superlativ verdrängt den vorangegangenen. Mancher Volksgenosse träumt schon von transuralen Vorstößen nach Iran und Indien [Kle:651 f.]. Dass andererseits die englischen Luftangriffe in Aachen, Köln und Münster schwere Zerstörungen anrichten, kann die Endsieggewissheit kaum trüben. Hitler ist auf dem Höhepunkt seiner Macht. Kiew wankt, und noch vor Einbruch des Winters will er die Siegesparade in Moskau abnehmen. In den ersten Septembertagen belagern die deutschen Truppen bereits Leningrad. Die Stadt soll ausgehungert werden. Die Luftwaffe vernichtet systematisch die Lebensmittellager. 3000 Tonnen Mehl und 2500 Tonnen Zucker verbrennen. Im Deutschen Reich wird zur gleichen Zeit ein Kartoffelschälverbot für Restaurants erlassen. Die Bierproduktion ist wegen Mangels an Gerste um fünfzig Prozent zurückgegangen.
Mitte September soll Werner Heisenberg einen Vortrag im Deutschen Wissenschaftlichen Institut für Kulturpropaganda in Kopenhagen halten, für das Staatssekretär Ernst von Weizsäcker im Auswärtigen Amt zuständig ist. Die Deutschen sind bereits seit eineinhalb Jahren als Besatzer in Dänemark. Carl Friedrich von Weizsäcker begleitet Heisenberg. Gemeinsam beschließen sie, die Gelegenheit zu nutzen und sich mit Niels Bohr zu beraten, ob man die freie Straße zur Atombombe auch befahren dürfe. Die dänischen Wissenschaftler boykottieren die Veranstaltungen des Instituts, das die Dänen für den Nationalsozialismus erwärmen möchte. Offenbar begrüßt Bohr Werner Heisenberg als Freund und nicht als einen hohen wissenschaftlichen Repräsentanten der verhassten Besatzungsmacht, die seine Bewegungsfreiheit einschränkt. Nach einem Abendessen mit Niels und Margarethe Bohr in deren Wohnung drängt Heisenberg, so erinnert er sich selbst, auf ein Gespräch unter vier Augen. Er weiß, dass der dänische Gelehrte von der Gestapo überwacht wird. Ein Spaziergang scheint ihm daher die unverfänglichste Variante zu sein, um einen Meinungsaustausch in Gang zu bringen, ohne abgehört zu werden.
Wenn er jetzt mit dem alten Freund über Atomwaffen und den hochgeheimen Uranverein sprechen will, geht er dennoch ein hohes Risiko ein. Es muss ihm klar sein, dass er Hochverrat begeht und dafür hingerichtet werden kann. Es müsste nur eine unvorsichtige Äußerung des leidenschaftlichen Kommunikators Bohr über sein Anliegen in die falschen Kanäle geraten. Und so tastet sich Heisenberg aus Furcht, «später auf irgendeine bestimmte Äußerung festgelegt werden zu können» [Hei 2 :213], in Andeutungen an das Thema heran. Nach zwei Jahren intensiver Kernspaltungsforschung sei er zu der Überzeugung gelangt, dass eine Atombombe grundsätzlich machbar sei. Allerdings halte er den technischen und finanziellen Aufwand für viel zu hoch, um in absehbarer Zeit eine einsatzbereite Bombe bauen zu können. Seine eigentlich Frage nach der moralischen Berechtigung von Physikern, an der Entwicklung einer Atomwaffe mitzuwirken, ganz gleich ob in einer Demokratie oder in einer Diktatur, kann Heisenberg gar
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