Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Komitee berufen hat. Mit dabei sind hochkarätige Physiker wie der spätere Nobelpreisträger Patrick Blackett und James Chadwick, dessen Entdeckung des Neutrons überhaupt erst zur Kernspaltung geführt hat. Im Gegensatz zum Budapester Trio vor der amerikanischen Urankommission müssen sich der gebürtige Österreicher Frisch und der Exildeutsche Peierls nicht gegen knauserige Soldaten durchsetzen. Die Physiker können Zahlen und Fakten selbst überprüfen. Nach anfänglicher Skepsis gegenüber der gewaltigen Zerstörungskraft der Bombe genügt den Verantwortlichen die bloße Vorstellung, Erzfeind Hitler lasse gerade eine solche Massenvernichtungswaffe bauen, um Frischs Grundlagenversuche zur Anreicherung von Uran-235 zu unterstützen. Als Frisch James Chadwick zum ersten Mal begegnet, mustert der ihn, «indem er wie ein Vogel den Kopf hin und her drehte … Nach einer halben Minute sagte er plötzlich: ‹Wieviel Hex wollen sie denn?›» [Frs:167].
Uranhexafluorid ist die einzige gasförmige Uranverbindung, die für einen Einsatz im Trennrohr in Frage kommt. Aber Frisch ist nicht der Einzige, der auf die Idee gekommen ist, mit «Hex» zu experimentieren. Paul Harteck in Hamburg verfolgt eine ähnliche Strategie. Gemeinsam mit seinem Assistenten Wilhelm Groth stellt er allerdings fest: Das stark ätzende Uranhexafluorid greift die Innenwände der Trennrohre an. Auf der Suche nach einem korrosionresistenten Material empfiehlt die I.G. Farben Nickel. Selbst Kurt Diebner vom Heereswaffenamt bereitet es Probleme, die angeforderten 65 Kilogramm des kriegswichtigen Metalls zu beschaffen. Doch im Oktober 1940 können Harteck und Groth den Bau eines acht Meter langen Rohrs aus Nickel in Angriff nehmen. Sie sind zuversichtlich, mit ihrem Rieseninstrument bald auch erste wägbare Mengen spaltfähiges Uran-235 isolieren zu können.
Emilio Segrè, Fermis früherer Mitarbeiter in Rom, arbeitet jetzt in Berkeley. Anfang 1941 will er auch experimentell nachweisen, was die Bohr-Wheeler-Theorie voraussagt, nämlich die Spaltbarkeit des Plutoniums und seine Eignung als Bombenstoff. In einem von Ernest Lawrence gebauten Zyklotron gelingt es ihm erstmals, Neptunium in ausreichender Menge zu produzieren. Ein eigens von Glenn Seaborg und Arthur Wahl entwickeltes Verfahren lässt die erfolgreiche Trennung des Plutoniums vom Neptunium zu, sodass Segrè die entscheidenden Messungen an einer winzigen Menge Plutonium durchführen kann. Sie bestätigen die Theorie, nach der eine Atomsorte wie Plutonium-239 stabil, aber spaltbar ist. Segrè darf diese wichtige Neuigkeit nicht einfach an seinen Freund Enrico weitergeben, «weil wir beide Ausländer [aliens] waren und davon abgehalten wurden, direkt miteinander zu kommunizieren» [Seg:119]. Also teilt Seaborg die Ergebnisse dem Vorsitzenden der Uran-Beratungskommission, Lyman Briggs, in einem geheimen Bericht mit. Und der leitet die Nachricht an Fermi weiter.
Auch die Arbeitsgruppenleiter des deutschen Uranvereins müssen sich eingeschränkte Kommunikationsstrukturen gefallen lassen. Sie stehen in Konkurrenz zueinander und dürfen ihre Berichte nur bei Diebner abliefern, der dann allein beschließt, wer über neue Erkenntnisse informiert wird. Bothe hält am Kaiser-Wilhelm-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg an Kohlenstoff als Moderator für die «38-Maschine», wie das Wunschobjekt jetzt genannt wird, fest. Er weiß zwar, dass Werner Heisenberg, sein größter Konkurrent um den Direktorenposten am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin, sich bereits auf schweres Wasser festgelegt hat. Und nach Hartecks mangels Masse gescheiterten Trockeneisversuch gilt Kohlenstoff ohnehin als Auslaufmodell. Dennoch will Bothe im Herbst 1940 die Eignung von Kohlenstoff als Bremssubstanz testen. Dafür wählt er eine Versuchsanordnung, die wie eine Mischung aus der Graphitstapelei in New York und Heisenbergs Unterwasser-Glockenspiel im Virushaus erscheint. Bothe versenkt nämlich eine Kugel aus Graphit in einem Wasserbehälter. Sie hat einen Durchmesser von 110 Zentimetern. In ihrer Mitte sind Neutronenquelle und Detektoren angebracht [Dah:140]. Aber auch seine Ergebnisse sind alles andere als ermutigend. Das Graphit absorbiert Neutronen in einer Größenordnung, die Bothe schockiert. Er wiederholt seinen Versuch mit dem vermeintlich reineren «Elektrographit», den der Siemenskonzern ihm liefert. Doch selbst dieses Material bringt ihm nicht die erhofften Resultate. An
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