Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Würfel. Leo Szilard aber wird dazu verdonnert, mit seiner unnachahmlichen Mischung aus Schmeicheleien und Beleidigungen die Graphithersteller noch einmal bei ihrer Berufsehre zu packen.
Während Enrico Fermi noch sein Scheitern analysiert, ist Paul Hartecks Mitarbeiter Wilhelm Groth entsetzt über den grün schimmernden Belag auf den Innenwänden des Acht-Meter-Trennrohrs. Das aggressive Hex greift sogar Nickel an. Auch Otto Robert Frisch in England muss sich eingestehen, dass die Gewinnung von Uran-235 in einem erhitzten Rohr nicht mehr als ein kühner Traum gewesen ist.
Schon als Schüler hat sich der in Wien aufgewachsene Fritz Houtermans durch aufrührerisches Verhalten in Schwierigkeiten gebracht. Vom Gymnasium verwiesen, weil er mit dem Kommunistischen Manifest in der Hand die gefährlichen neuen Ideen auf dem Schulhof verbreitete, schickte ihn die Mutter zu Sigmund Freud auf die Couch. Doch auch auf diesem berühmten säkularen Beichtmöbel leistete er sich einen unverzeihlichen Fauxpas, als er dem Analytiker gestand, seine offenbarten Träume nur erfunden zu haben [Ber 2 :86]. «Als eure Vorfahren noch auf Bäumen lebten, haben meine schon Schecks gefälscht» [Bir:74]. Über dieses ironische Bekenntnis des jungen Physikers zu seinen jüdischen Wurzeln hat sich 1927 in Göttingen ein Amerikaner deutsch-jüdischer Herkunft noch köstlich amüsiert. Beeindruckt war Robert Oppenheimer auch von Houtermans’ revolutionären Vorstellungen «thermonuklearer Reaktionen» im Inneren von Sternen als Quelle der ungeheuren Energiefreisetzung. Ganz und gar nicht gefiel Oppenheimer allerdings, dass dieser brillante Theoretiker und überzeugte Kommunist ihm ausgerechnet die Frau ausspannte und heiratete, in die er selbst hoffnungslos verknallt war.
1937 ging Houtermans freiwillig ins Arbeiterparadies Sowjetunion und wurde prompt ein Opfer von Stalins «Säuberungen». Als verdächtiger Ausländer musste er eine Odyssee durch mehrere Gefängnisse antreten. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 wurde er nach Deutschland abgeschoben und verschwand umgehend als verdächtiger Kommunist in einem Berliner Gestapo-Knast, aus dem ihn Nobelpreisträger Max von Laue befreite. Seit Sommer 1940 arbeitet Houtermans im Labor des Physikers und Erfinders Manfred von Ardenne, der in Berlin-Lichterfelde – unabhängig vom Uranverein – für das Postministerium Kernspaltungsforschung betreibt. In seinem Auftrag untersucht Houtermans jetzt ausführlich die Bedingungen zur Auslösung einer nuklearen Kettenreaktion. Da Manfred von Ardenne nicht den Kommunikationseinschränkungen des Heereswaffenamtes unterliegt, schickt er im August 1941 Kopien des Aufsatzes über nukleare Kettenreaktionen an rund vierzig deutsche Physiker, unter anderem auch an seinen Konkurrenten Kurt Diebner [Kar:73].
Im Grunde vertieft und bestätigt Houtermans noch einmal mit strenger mathematischer Beweiskraft die intuitiv formulierten ersten Schlüsse, die Weizsäcker ein Jahr zuvor aus der Entdeckung der Elemente 93 und 94 – Neptunium und Plutonium – gezogen hat [Ber 2 :95]. Im Gegensatz zu Weizsäcker weist Houtermans nicht ausdrücklich auf die Waffentauglichkeit von Plutonium hin. Aber jeder Kernphysiker, der seinen Bericht liest, weiß natürlich, was diese Berechnungen bedeuten: Eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion in einem funktionierenden Uranmeiler liefert zwangsläufig den Bombenstoff als Nebenprodukt der Energieerzeugung. Angeblich schickt Houtermans über Emigrantenfreunde eine Warnung an amerikanische Wissenschaftler. Sie sollten ihre Anstrengungen im Wettlauf um die Bombe erhöhen, weil die Deutschen über die brisante Eigenschaft des Elements 94 Bescheid wüssten.
In Dahlem elektrisiert die Arbeit aus dem Stadtbezirk Lichterfelde die beiden wichtigsten Köpfe des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik: Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker. Plutonium, das Nebenprodukt des Reaktorbetriebs, treibt Weizsäcker ja schon seit einem Jahr um. Houtermans’ Arbeit muss ihn geradezu inspiriert haben, noch einen Schritt weiterzugehen. Denn jetzt beantragt er fünf Patente für die Energiegewinnung aus Plutonium, wobei er sich auch unmittelbare Auswirkungen auf die Reaktorgeometrie verspricht, nämlich kleinere und womöglich mobile Uranmaschinen. Das sechste Patent beansprucht er für eine Plutoniumbombe, die er so skizziert: «Verfahren zur explosiven Erzeugung von Energie und Neutronen aus der Spaltung des Elements 94, dadurch
Weitere Kostenlose Bücher