Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Aber selbst dieser relativ erfolgreiche Versuch bewegt sich mit einem Kessel von zweieinhalb Metern Durchmesser noch immer in Modelldimensionen. Für den Bau einer großen Pilotanlage mit einer selbsterhaltenden Kettenreaktion fehlt Diebner vor allem tonnenweise schweres Wasser. Und da die Alliierten im Februar 1943 die norwegische Produktionsanlage zum ersten Mal bombardiert haben, dämmert den Deutschen, bei der Wahl der Bremssubstanz womöglich auf ein viel zu exklusives Material gesetzt zu haben.
Im Frühling 1943 ist also eine Bretterbude mitten in der märkischen Heide das Zentrum der deutschen Kernforschung. Die Barracke ist so schmal, dass fünf darin versammelte Menschen sich schon gegenseitig auf die Füße treten. Zeitgleich tummeln sich auf dem künftigen Werksgelände der Urananreicherungsfabrik nahe der Kleinstadt Clinton, Tennessee, viele tausend Bauarbeiter. Eisenbahngleise müssen verlegt, Straßen befestigt und hügeliges Gelände eingeebnet werden, bevor die Industrieanlagen gebaut werden können. Die für 13 000 Arbeiter vorgesehene neue Stadt an einer markanten Biegung des Tennessee River wird nach den Eichenwäldern benannt, die die Landschaft hier prägen: Oak Ridge. Wie in Los Alamos: Wohncontainer und Stacheldraht, wohin das Auge schaut. Und mittendrin ein großes, rot-weiß gestreiftes Zirkuszelt als improvisierte Cafeteria.
In natürlichem Uran kommen auf tausend U-238-Atome sieben Atome spaltfähiges U-235. Ob sich die Trennung dieser seltenen Sorte nun am besten mit einem elektromagnetischen Verfahren oder über einen komplizierten Wärmeprozess verwirklichen lässt, ist noch nicht geklärt. Bei der elektromagnetischen Version schickt Ernest Lawrence aus Berkeley elektrisch geladene Atome durch ein Magnetfeld, wobei sie beschleunigt werden und sich auf einer Flugbahn bewegen, die wie ein großes C aussieht. Die leichteren U-235-Atome beschreiben dabei einen etwas engeren Bogen und lassen sich daher einen knappen Zentimeter neben den schwereren 238ern in einem Sammelgefäß einfangen. Lawrence hat bereits vor eineinhalb Jahren in seinem knapp fünf Meter großen Zyklotron 100 Mikrogramm U-235 isoliert und somit nachgewiesen, dass das elektromagnetische Trennverfahren im Prinzip funktioniert. Jetzt muss er seine Methode noch auf großindustrielle Maßstäbe erweitern.
Lawrence strebt eine Tagesproduktion von 100 Gramm U-235 an, um in 300 Tagen die 30 Kilogramm für einen Bombenkern liefern zu können, wie Oppenheimer es gefordert hat. Um dieses Ziel zu erreichen, will er 2000 C-förmige Tanks von jeweils 1,2 Meter Durchmesser bauen lassen, in denen die Trennung stattfinden soll. Sie werden hintereinander aufgestellt. Dazwischen stehen Magneten von mehreren tausend Tonnen Gewicht. «Sie waren so stark, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen die Anziehungskraft durch die Nägel ihrer Schuhe und in ihren Haarnadeln spüren konnten» [DeG:49]. Bald müssen sogar die vierzehn Tonnen schweren Tanks mit Stahlbügeln am Boden festgeschweißt werden, weil die Magneten sie zum Tanzen bringen. Im Frühsommer 1943 sieht Ernest Lawrence seine Vision Gestalt annehmen. 20 000 Bauarbeiter errichten auf einer Fläche von zwanzig Fußballfeldern 268 Gebäude, inklusive acht Umspannwerke und neunzehn Wasserkühltürme – «dies alles für einen Tagesausstoß, der sich selbst in besten Zeiten nur in Gramm ausdrücken ließ» [Rho:498].
General Groves hat Ernest Lawrence zwar nur 500 Tanks bewilligt, hat selbst aber einen Coup gelandet, der das ganze Unternehmen überhaupt erst möglich macht. Da die Kupferknappheit in Kriegszeiten die Produktion der gewaltigen Elektromagnete gefährdet, wendet sich Groves kurzerhand an das Finanzministerium und fordert rund 12 000 Tonnen Silberbarren als Kupferersatz aus den Staatsreserven. Das Silber soll zu dünnen Streifen ausgewalzt werden, damit man sie anschließend um die Magnetspulen wickeln kann. Seine Verhandlungspartner sind empört, aber im Namen von Patriotismus und Kriegseifer liefern sie schließlich das kostbare Metall im Wert von 300 Millionen Dollar.
Der 36-jährige John Manley ist ein Experte für die Physik der Neutronen. Im Sommer 1942 hat Arthur Compton ihn zu Oppenheimers persönlichem Assistenten ernannt. Anfang April 1943 sitzt er im Lastwagen eines Fuhrunternehmers, der ihn und seine kostbare Fracht von Santa Fe nach Los Alamos chauffiert. Auf den letzten 20 Kilometern vom Rio Grande hoch zur Mesa muss der klapprige
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