Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Wagen 600 Meter Höhenunterschied bewältigen. Die Straße ist eine Zumutung: viel zu schmal und ohne Brüstung oder Geländer, sodass das Fahrzeug in den Haarnadelkurven der ungesicherten steilen Felswand gefährlich nahe kommt. Der Chauffeur kriecht die Steigung hinauf, vorsichtig bemüht, wenigstens den ärgsten Schlaglöchern auszuweichen. Auf der Ladefläche stehen die Kisten mit Manleys selbstgebautem Teilchenbeschleuniger. Nicht einmal einen einfachen Strick zum Festbinden hat der Fahrer ihm anbieten können. In jeder Kurve gerät die schmalste Kiste mit der Röhre aus Porzellankomponenten bedenklich ins Schleudern [Bad:31].
Manley selbst ist noch nie zuvor in Los Alamos gewesen. Trotzdem hat er in den vergangenen Wochen im Auftrag Oppenheimers Loblieder auf diesen mysteriösen Ort gesungen. Er hat Dutzende der besten Physiker des Landes überredet, nicht nur ihre feinsten Messinstrumente für ein geheimes, kriegswichtiges Projekt herzuschenken, sondern gleich selbst mitzukommen in die Wildnis von New Mexico. Ihr Durchschnittsalter ist 24 Jahre, was sich als Indiz für eine neue, amerikanische Knabenphysik werten ließe. Dabei scheint es Oppenheimers Rekruteur vor allem gelungen zu sein, die vom Militär bewachte Arbeit in Barackenlabors, eine mit Pfadfinderlektüre vollgestopfte Bibliothek, die Postzensur und die Reisebeschränkungen als unvergessliche Abenteuer zu verkaufen. Sein größter Erfolg sind zweifellos die drei Teilchenbeschleuniger, die er den Universitäten von Wisconsin, Harvard und Princeton abgeschwatzt hat. Im Augenblick aber hofft er nur, dass seine kostbare Fracht es erst einmal heil den Berg hinaufschafft. Für seine selbstgebaute Maschine hat Manley bei den Bauingenieuren auf der Mesa eigens ein Fundament in Auftrag gegeben. Jede Universität der Welt wäre stolz auf ein einziges Gerät dieses Kalibers.
Obwohl Fermi in einer Squashhalle zweifelsfrei nachgewiesen hat, dass mit langsamen Neutronen Kernspaltung und Kettenreaktion ausgelöst werden, hatten im vergangenen Sommer die in Oppenheimers Büro diskutierenden Experten erkannt, dass sie sich bei der Konstruktion der Bombe darauf nicht verlassen können. Mit langsamen Neutronen würde die Kettenreaktion vermutlich nicht rasch genug voranschreiten und verpuffen, ohne den Bombenkern zur Detonation zu bringen. Hier müssen schnelle Neutronen zum Zuge kommen. Die Theoretiker, Experimentalphysiker und Waffenspezialisten in Los Alamos wollen jetzt auf der Grundlage dieser These zwei unterschiedliche Bomben bauen: eine aus Uran und eine aus Plutonium. Noch immer gibt es keine genauen Zahlen für die kritische Masse beider Stoffe. 30 Kilogramm U-235 sei die Mindestmenge spaltbaren Materials, um eine Kettenreaktion auszulösen, lässt Oppenheimer seine Gesprächspartner in Oak Ridge wissen. Doch diese Zahl steht in Los Alamos gerade wieder zur Debatte, und es sieht so aus, als genüge auch diese Menge noch nicht für einen Bombenkern – eine rasante Aufstockung seit Otto Robert Frischs optimistischer Schätzung von zwei Pfund im Sommer 1939.
Experimente mit dem reinen Bombenstoff selbst sind nicht möglich, da im Frühjahr 1943 noch kein spaltbares Material zur Verfügung steht. John Manley hat zwar in Berkeley schon mit Proben im Mikrogrammbereich hantiert, aber diese geringen Mengen führen – zumindest für die Bombentechnik – zu keinen verwertbaren Ergebnissen. In dieser Phase der Ungewissheit kommen Manleys Maschinen ins Spiel. Da Zyklotrone Quellen schneller Neutronen sind, ließe sich deren Verhalten mit Hilfe der Apparate studieren. Manley und sein Team hoffen, mit geballter Maschinenleistung auf Werte zu stoßen, die ihnen etwas über die sichere Zusammenführung mehrerer subkritischer Massen zu einer kritischen Masse in einem Bombenbehälter sagen können [Bad:28].
Keine Zeit für eine Einweihungsparty der Atomschmiede auf dem Berg – jedenfalls keine mit Champagner, Kanapees und zerschnittenen Bändern. Aber alle Beteiligten haben die Aprilkonferenz als Startschuss für die Arbeit in Los Alamos in Erinnerung. Wer Rang und Namen hat in der Welt der Physik und für das Manhattan-Projekt ausgewählt wurde, ist anwesend oder wird in den nächsten Wochen hier auftauchen. Der Deutsche Hans Bethe, seit 1941 auch US-Bürger, wird von Oppenheimer zum Leiter der «Theoretischen Abteilung» ernannt, des wohl sensibelsten Bereichs. Weitere Abteilungen für Experimentelle Physik, Chemie, Metallurgie und Waffendesign werden
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