Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
vor der Militärpolizisten mit Maschinenpistolen stehen. Am Nachmittag des 7. Mai fliegen sie weiter nach Paris.
Am späten Abend des 8. Mai ist Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel in der Pionierschule der Wehrmacht in Berlin-Karlshorst eingetroffen und hat an einem Tisch im Offizierskasino Platz genommen. Marschallstab, Mütze und rechter Handschuh liegen neben ihm auf dem Tisch. Den linken Handschuh hat er nicht abgestreift. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht soll hier, im Hauptquartier der Roten Armee, die Kapitulationsurkunde noch einmal unterschreiben, denn Stalin besteht auf einer eigenen Inszenierung. Es ist bereits 0 Uhr 16 am 9. Mai, als Keitel seinen Namen unter das Dokument setzt. Beim Verlassen des Kasinos hebt er noch einmal den Marschallstab zum Gruß in die Höhe.
Wilhelm Keitel ist für kurze Zeit mit seiner Cousine Käthe Vissering verlobt gewesen [Bir:162]. Sie heiratete schließlich den Ingenieur Franz Püning, brachte 1910 in Recklinghausen ein Mädchen namens Katharina zur Welt und wanderte dann mit Mann und Tochter in die USA aus. Katharina erwirbt sich einen gewissen Ruf als Wirbelwind, Kommunistenbraut und Partygirl Kitty. Ihren vierten Eheversuch wagt sie mit Robert Oppenheimer. Als Cousin ihrer Mutter ist Deutschlands ranghöchster Soldat Wilhelm Keitel Kittys Großcousin, also ein Blutsverwandter von Mrs. Oppenheimer.
Robert Oppenheimer und seiner Truppe ist an diesem Tag der Todfeind abhanden gekommen. Die deutsche Atombombe ist nichts weiter als ein Spuk gewesen. Eigentlich könnten die Leute von Los Alamos die Arbeit jetzt gemächlicher angehen. Aber Politiker und Militärs haben längst entschieden, dass die ersten Atomwaffen gegen Japan zum Einsatz kommen sollen. Sie haben sofort begriffen, welche Macht mit dem Besitz der Bombe verbunden ist.
Kistiakowskys Mitarbeiter setzen bei der Qualitätskontrolle ihrer Sprengstofflinsen auf ein Röntgengerät, um Haarrisse im Material aufzuspüren. Noch hat sich das Verhältnis zwischen Ausschuss und Qualitätsware nicht zugunsten gelungener Gussstücke verschoben. Die Vorgabe lautet: Der Dicke Mann braucht 96 Präzisionslinsen, die innerhalb einer fünfzehnmillionstel Sekunde gleichzeitig hochgehen müssen, um an allen Punkten der Plutoniumkugel eine gleichmäßige Implosion auszulösen.
In anderen Abteilungen wird ebenfalls Ausschuss produziert, und manche anfangs grandios erschienene Idee erweist sich später als richtig teurer Fehlschlag. So wollen Edward Teller und Robert Oppenheimer verhindern, dass beim Ausklinken des Dicken Mannes aus dem Bombenschacht einer B-29 womöglich ein streunendes Neutron in der Luft in den Plutoniumkern eindringt und es zu einer frühzeitigen Explosion kommt. Also konstruieren sie eine Folie aus Bor, die die Neutronen wie ein Schwamm aufsaugen soll. Die Entwicklung dieser Schablone verschlingt 10 Millionen Dollar. Die Folie verschwindet unbenutzt in irgendeinem Regal, weil sie sich als unnötig erweist [Hay:131].
Auch die Metallurgen gehen recht großzügig mit wertvollen Ressourcen um, die in Los Alamos angesichts der absoluten Schätze U-235 und Pu-239 zu Plunder abgewertet sind. Mitglieder des Plutoniumpinkelclubs UPPU gießen einmal zwei Hemisphären aus reinem Gold, um zu messen, wie stark das Edelmetall Neutronen reflektiert. Bald denkt niemand mehr an das Gold, bis Richard Feynman bei der Führung eines Besuchers durch die Labors den Raum betritt, in dem der Bombenstoff gehütet wird: «Auf einem Sockel lag eine kleine, silbern glänzende Kugel. Man konnte seine Hand drauflegen. Sie war warm. Sie war radioaktiv. Es war Plutonium» [Fey:29 f.]. Als Feynman und sein Gast das Allerheiligste verlassen, entdecken sie, dass die UPPU-Kollegen doch noch eine angemessene Funktion für eine der Halbkugeln aus Gold gefunden haben. Sie dient jetzt als Türstopper für die Plutoniumschatzkammer.
Manchmal gibt Richard Feynman reumütig zu, dass seine Lust, Probleme zu lösen und raffinierte Codes zu knacken, krankhafte Züge annimmt. Aber dieses Geständnis ist natürlich die pure Koketterie. Geradezu versessen ist er darauf, Tresorkombinationen zu knacken. Und je unlösbarer die Aufgabe erscheint, umso hartnäckiger bleibt er am Ball. Die stärkste Anziehungskraft übt der große Tresor auf ihn aus, in dem die Dokumente mit sämtlichen Zahlen, Formeln, Neutronenraten und Bauanweisungen für die Atombombe untergebracht sind. In den zwei Jahren, die er in Los Alamos verbringt, tüftelt
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