Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Kirche ist eine Höhle in den Fels gehauen, die dem Schwanenwirt von Haigerloch als Bierkeller gedient hat, bevor im Februar 1945 die Physiker kommen und ihn als neuen bombensicheren Standort des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik beschlagnahmen. Hier soll die geheime Uranmaschine neu aufgebaut werden. Im März versenken Heisenberg, Weizsäcker und Wirtz das Diebner’sche Modell – 664 an 17 Ketten hängende Uranmetallwürfel – in einen Behälter mit eineinhalb Tonnen schwerem Wasser. Die Werte des Neutronenzählers stimmen die Mannschaft optimistisch. Ohne Sicherheitsvorkehrungen wie den Einbau von Cadmiumstäben zu treffen, nähern sie sich der kritischen Größe. Jetzt wollen sie es wissen. Die Beteiligten ahnen, dass dies wahrscheinlich der letzte Versuch sein wird. Am Ende des Experiments im Felsenkeller von Haigerloch steht eine bisher unerreichte Neutronenvermehrung. Für einen sich selbst erhaltenden Reaktor braucht das Heisenberg-Team indes etwa fünfzig Prozent mehr Uran und schweres Wasser [Cas:604]. Es muss Diebner ausfindig machen, der irgendwo in Thüringen undurchsichtige Versuche plant. Er soll das fehlende Material liefern.
Im Omega-Canyon, abseits der Wohngebäude und Labors von Los Alamos, arbeiten Otto Frisch und seine Leute weiter an ihrer Uranbombensimulation. Auf einer Werkbank unter freiem Himmel sind die Klötzchen jetzt ringförmig arrangiert und behutsam auf Lady-Godiva-Höhe aufgestapelt worden. Das zu einer kritischen Anordnung noch fehlende Stück ist ein Uranhydridbolzen von fünfzehn mal fünf Zentimetern Größe. Er hängt direkt über dem Ring aus Uran an einem drei Meter hohen Eisengerüst, das irgendein Witzbold «Guillotine» getauft hat. Auf Frischs Kommando wird der Bolzen losgelassen. Damit er nicht in der schmalen Öffnung des Rings stecken bleibt und eine Katastrophe auslöst, saust er auf Führungsschienen hinab und bringt dabei Lady Godiva in Wallung. Für den Bruchteil einer Sekunde werden die Bedingungen für eine «glimpfliche» Kernexplosion hergestellt. Starker Neutronenfluss und ein Temperaturanstieg von mehreren Grad signalisieren den Forschern «die Kettenreaktion als eine Art verhinderter Explosion» [Frs:200]. Anfang April 1945 darf Frisch dann mit silbern schimmernden Uranklötzchen hantieren, die keine Hydridanteile mehr haben, sondern aus reinem Metall sind. Draußen, im Omega-Canyon, oxidiert der Bombenstoff schnell zu einem «satten Pflaumenblau» [Rho:619] – eine aparte Nuance, die 1789 im leuchtenden Uranfarbspektrum des Berliner Apothekers Martin Heinrich Klaproth noch gefehlt hat. Mit diesen Versuchen kommen Frisch und seine Mitarbeiter der präzisen Bestimmung der kritischen Masse von Uran-235 für einen atomaren Sprengkörper immer näher.
Oberst Boris Pash und Professor Samuel Goudsmit machen Jagd auf die deutschen Atomforscher. Sie gehören der amerikanischen Spezialeinheit Alsos an , benannt nach General Leslie Groves. Alsos ist das griechische Wort für Hain, was im Englischen grove heißt – ein ähnlich lausiger Verschlüsselungsstandard wie «49» für Plutonium. Am 23. April 1945, als die meisten Deutschen den Zusammenbruch des Dritten Reichs fürchten, statt sich über die Befreiung von der Diktatur zu freuen, kommt die Spezialeinheit endlich in Haigerloch an. Erich Bagge, Max von Laue, Carl Friedrich von Weizsäcker und Karl Wirtz werden verhaftet. Zwei Tage später nimmt die Alsos-Mannschaft Otto Hahn in Tailfingen fest. Als Pash und Goudsmit sich die Stahltür zum Felsenkeller aufschließen lassen, sind ein leerer Kessel, ein Metallgerüst und ein paar Fässer schweren Wassers die traurigen Reste der gefürchteten deutschen Uranmaschine. Nicht ganz freiwillig geben die Gefangenen die Stelle preis, an der sie Uranwürfel und Versuchsprotokolle vergraben haben.
Als Physiker und früherer Freund Heisenbergs kann Goudsmit aus den Funden und Verhören nur einen Schluss ziehen: Die in der Schwäbischen Alb versammelten hochkarätigen Wissenschaftler sind zweifelsfrei die Avantgarde der deutschen Atomforschung. Die Deutschen standen im Bierkeller von Haigerloch zwar kurz vor einer Kettenreaktion. Von einem Atombombenprogramm kann jedoch keine Rede sein. Pash telegraphiert diese bedeutsame Information an General Groves. Damit ist das wichtigste Aufklärungsziel der Alsos-Mission erreicht. Weder der Oberst noch der Professor sind in die Existenz des Manhattan-Projekts eingeweiht. Zielperson Nummer eins hat sich
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