Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
größer die Bedrängnis war. Das lernten wir von ihm … Er brachte die politische Bewegung der Wissenschaftler in Gang» [Moo:314]. Im Sommer 1944 ist es Bohr gelungen, mit den beiden mächtigsten Männern der Welt Gespräche über seine Pläne zu führen. Hatte Roosevelt noch den Anschein erweckt, mit einer internationalen Kontrolle der Atomkraft einverstanden zu sein, reagierte Churchill empört auf Bohrs Vorschläge und erwog, dessen Bewegungsfreiheit einzuschränken. Lord Cherwell gegenüber äußerte er, man müsse Bohr «zumindest klarmachen, wie nahe er sich am Rande ungeheuerlicher Verbrechen befindet» [Moo:335]. Angesichts des polternden Churchill knickt der amerikanische Präsident ein. Die britisch-amerikanische Führung in der Atomwaffenforschung soll weder jetzt noch nach dem Krieg freiwillig preisgegeben werden.
Seit September 1944 liefert die Chemiefabrik in Oak Ridge Uran-235 – zwar nur geringe Mengen, die aber werden regelmäßig von bewaffneten Kurieren in 26-stündiger Bahnfahrt nach New Mexico geschickt. Verbesserungen des Filterprozesses lassen die Produktion im Januar 1945 auf täglich ein halbes Pfund ansteigen. Der Stoff ist achtzigprozentig angereichert und damit bombenfähig. Wenn jetzt nichts mehr dazwischenkommt, sollte bis Anfang Juli genügend Material für die kritische Masse zusammengekommen sein, die für das Geschützmodell der Bombe errechnet worden ist. Während George Kistiakowsky die Probleme der Plutoniumbombe noch nicht gelöst hat und sich einen zähen Machtkampf mit William Parsons über die Wirksamkeit der Sprengstofflinsen liefert, herrscht im Lager der Uranbombenkonstrukteure verhaltener Optimismus über das Gelingen.
Um die bisher errechneten Werte für die kritische Masse der Uranbombe auch experimentell zu bestätigen, schlägt Otto Frisch einen nicht ganz ungefährlichen Versuch vor. Der Erfinder des Begriffs Kernspaltung hat nichts Geringeres im Sinn, als handliche Klötzchen des Bombenstoffs übereinanderzustapeln und sich so, begleitet von ständigen Messungen der Neutronenaktivität, allmählich der kritischen Größe anzunähern, ohne eine Detonation auszulösen. Uran-235 liegt für diesen Versuch in Form des wasserstoffreichen Uranhydrids vor, das etwas träger reagiert als reines Uran. Richard Feynman, von Frischs Idee begeistert, sagt, es sei, «… als kitzelte man den Schwanz des schlafenden Drachen» [Frs:199]. Vorsichtshalber sind die Autos vor dem Labor so geparkt, dass sie – mit steckenden Zündschlüsseln – bereit sind für eine Flucht in die Wüste. Dass Frisch und sein Dutzend Männer hier mit Materie hantieren, die nicht nur unermesslich wertvoller ist als Gold, sondern tödliche Gefahr birgt, ist ihnen mit jedem Stück Uran, das sie dem Stapel hinzufügen, bewusst. So tasten sie sich, Klötzchen für Klötzchen, bis an die «nackte Anordnung» heran. Das ist die Schwelle knapp unter der kritischen Masse. Sie wird von Frisch liebevoll «Lady Godiva» genannt – nach einer englischen Adligen aus dem 11. Jahrhundert, die, so will es die Legende, nackt auf einem Pferd durch den Sprengel von Coventry ritt. Wer die schöne Lady nur ansah, erblindete auf der Stelle. Und wer hier, bei der Beobachtung dieses brisanten Turmbaus von Los Alamos, nicht noch Kostbareres als sein Augenlicht riskieren will, darf die Kontrolllampen der Messgeräte nicht aus den Augen lassen.
Einmal kommt Otto Frisch aus Unachtsamkeit der mythischen Dame zu nahe. Um einen Blick auf den Neutronenzähler werfen zu können, beugt er sich ein paar Sekunden lang über die nackte Anordnung und registriert, «dass die kleinen Lampen … kontinuierlich zu brennen» scheinen. In Wirklichkeit blinken sie jetzt so schnell, dass man diesen Unterschied nicht mehr wahrnehmen kann. Er schreckt zurück und wischt mit einer hastigen Handbewegung ein paar Uranklötze vom Stapel. Sofort blinken die Lampen wieder normal. Frisch ist sich seines fatalen Fehlers bewusst: Im Vorwärtslehnen haben die Wasserstoffatome in seinem Körper einige Neutronen von Lady Godiva reflektiert – gerade genug, um sie in den kritischen Zustand zu versetzen und ihre Reaktionsgeschwindigkeit rasant zu erhöhen. «Hätte ich … nur zwei Sekunden gezögert», kommentiert Frisch, «wäre die Strahlungsdosis tödlich gewesen» [Frs:202].
Die Schlosskirche des Kurorts Haigerloch am Rand der Schwäbischen Alb steht auf einem 20 Meter hohen Felsen und überragt die Nachbargemeinde von Hechingen. Unter der
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