Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
schönen Juliabend 1914 im Berliner Villenviertel Grunewald spazieren geht, könnte das anrührende andante cantabile aus dem Klaviertrio Nummer 7 in B-Dur erkennen. Die Musik dringt aus den halb geöffneten Fenstern der Villa an der Wangenheimerstraße 21. Das 1905 erbaute Haus ist stattlich, aber nicht pompös und ist außen wie innen in kühler, strenger Form gehalten. Auch der Umgangsstil des Hausherrn gilt unter Mitarbeitern und Kollegen als eher zurückhaltend und unpersönlich. Doch wer ihn näher kennt, schätzt ihn als warmherzigen, Anteil nehmenden Freund und geselligen Musikliebhaber. Die Einladungen zu seinen Hauskonzerten sind jedenfalls heiß begehrt. Otto Hahn ist inzwischen regelmäßig hier zu Gast. Vielleicht weiß der lauschende Passant auf dem Bürgersteig, dass hier Geheimrat Max Planck mit seiner Familie residiert.
Kurz nach dem Verklingen des vierten Satzes – allegro moderato presto – werden die Türen zum Garten aufgerissen, und es stürmt eine Meute übermütiger Erwachsener unter lautem Gelächter hinaus auf den Rasen. Alle toben ohne erkennbaren Grund um Zierbüsche und Obstbäume herum. Doch die Regel des Spiels ist simpel. Man sucht sich ein Opfer aus, gibt ihm anstandshalber seine Absicht kund und verfolgt es dann quer durch den Garten, bis man es festhalten kann. Heute hat es der Gastgeber auf die aparte junge Frau mit dem braven Mittelscheitel und den zum Dutt zusammengesteckten dunklen Haar abgesehen, die flink, aber nicht flink genug, die Flucht ergreift, über Blumenbeete springt und unter tiefhängenden Kirschzweigen entlanghetzt. Bald hat der große, schlanke Mittfünfziger mit den hellblauen Augen und den langen Beinen Lise Meitner eingeholt. «Und wie sichtlich vergnügt er war, wenn er einen erwischt hatte», erinnert sich die Erhaschte [Fis 1 :162]. Für Max Planck und seine Gäste ist das Fangenspiel nach dem Konzert, heute wieder mit ihm selbst am Klavier und einem holländischen Cellisten, ein beliebtes Ritual.
In der Verandatür steht der Violinist, mag nicht so recht glauben, was er da sieht, und zögert, sich ebenfalls ins Getümmel zu stürzen. Es ist der Mann, der Materie als erstarrte Energie erkannt hat. In dessen Bewusstsein sich Raum und Zeit gerade zu einer unauflöslichen Einheit fügen, in der die Schwerkraft keine Kraft mehr ist, sondern sich zu einer geometrischen Größe gestaltet – zur vierdimensionalen Raumzeit, die durch den Einfluss von Masse gekrümmt wird. Es ist ein Konzept, das ihn schon bald zum berühmtesten Physiker des 20. Jahrhunderts werden lässt. Albert Einstein lebt seit drei Monaten nicht weit von Plancks Domizil entfernt. Seinen Status als nobel honorierter Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik ohne Lehrverpflichtung nimmt er, wie immer, humorvoll und gelassen. Er sei «quasi als lebendige Mumie» nach Berlin gekommen, lässt er alle Welt wissen. Sein Institut existiert vorerst nur in der Vorstellung aller Beteiligten, denen der Coup gelungen ist, Einstein hierher zu locken. Gerade hat er sich von seiner Frau Mileva getrennt: «Das Leben ohne meine Frau ist für mich persönlich eine wahre Wiedergeburt», gesteht er einem Freund. «Es ist mir zumute, wie wenn ich zehn Jahre Zuchthaus hinter mir hätte» [Nef:188].
Lise Meitner erinnert sich lebhaft an den Hausmusikabend mit dem B-Dur-Trio von Beethoven in der Planck’schen Villa: «Einstein, sichtlich erfüllt von der Freude an der Musik, sagte laut lachend, in seiner unbeschwerten Art, dass er sich wegen seiner mangelhaften Technik schäme. Planck stand dabei, mit ruhigem, aber buchstäblich glückstrahlendem Gesicht und rieb sich mit der Hand in der Herzgegend: ‹Dieser wunderbare zweite Satz.› Als nachher Einstein und ich weggingen, sagte Einstein ganz unvermittelt: ‹Wissen Sie, um was ich Sie beneide?› Und als ich ihn überrascht ansah, fügte er hinzu: ‹Um Ihren Chef›» [Fis 1 :148 f.]. Seit 1912 bringt ihr die Anstellung als Plancks persönliche Assistentin an der Universität endlich ein regelmäßiges Gehalt ein. Am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie arbeitet sie im Sommer 1914 allerdings noch immer als «unbezahlter Gast» mit Otto Hahn zusammen.
Im März 1914 wird Hahn von Carl Duisberg, dem Direktor der Bayer-Werke in Leverkusen, zu einem Fest eingeladen. Er soll den Gästen irgendetwas Aufregendes aus der Radioaktivitätsforschung präsentieren. Er hat sich für einen exotischen «Schreibstift» entschieden: Ein Glasröhrchen mit stark
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