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Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Titel: Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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militärische Dienste oder Aufträge übernommen» [Nat:35].
    Allen voran: Fritz Haber. Mit Ausnahme der von Hahn und Meitner geleiteten Abteilung für radioaktive Forschung sind alle Räume des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie inzwischen für die Entwicklung der chemischen Kriegsführung reserviert. Zu dem von Bayer und BASF gelieferten Sortiment giftiger Substanzen gehört auch das tödlich wirkende Chlorgas. Als Abfallprodukt ist es in beiden Fabriken in enormen Mengen sofort verfügbar – ideale Voraussetzungen für den Kriegseinsatz in großem Stil. Haber zieht das Gas auf Stahlflaschen und bringt eine Methode zur Reife, es als Kampfstoff im offenen Gelände wirkungsvoll einzusetzen. In der Zweiten Flandernschlacht werden in der Nähe des Städtchens Ypern im Südosten Belgiens erstmals 150 Tonnen Chlor nach der Haber’schen Methode «abgeblasen». Am 22. April 1915 weht ein leichter Wind von Nord-Nord-Ost. Bei Sonnenuntergang öffnen deutsche Pioniere fünf Minuten lang die Ventile von sechstausend Stahlzylindern. Eine Wolke von ähnlich gelbgrüner Farbe wie Uran treibt auf einer Breite von sechs Kilometern auf die Stellungen der Alliierten zu, die sich im Schlamm des Marschlands eingegraben haben.
    Was kein voranstürmender Soldat, kein Bombensplitter und keine Gewehrkugel schafft, gelingt dem Gas mühelos. Es ist schwerer als Luft und sinkt auf die Erde herab, kriecht über den Morast, wälzt sich über Sandsäcke hinweg, durchweht die Stacheldrahtrollen und füllt schließlich auch die Schützengräben aus. In diesen bereits ausgehobenen Gräbern werden die Soldaten von der unerwarteten Waffe völlig überrascht. In Panik flüchten sie vor der todbringenden Wolke, verstehen nicht, was gerade mit ihnen geschieht, kämpfen gegen den Hustenreiz an, atmen daher noch mehr Chlorgas ein, das ihre Lungen verbrennt. In Todesangst stopfen sie sich ihre Hemdsärmel in den Mund, graben mit den Händen Löcher in die Erde, um kurz vor dem Ersticken noch ihre brennenden Gesichter im Morast zu kühlen und vor dem gelbgrünen Nebel zu verbergen [Rho:87].
    Nach diesem schnellen, in seiner Mühelosigkeit unerwarteten Frontdurchbruch, der 5000 alliierten Soldaten das Leben kostete und 10   000 Schwerverletzte hinterließ, ist Fritz Habers Institut in Dahlem das unangefochtene Logistikzentrum der chemischen Kriegsführung. Otto Hahn baldowert gerade als «Gaspionier» in der Champagne das Gelände für neue chemische Angriffe aus. Das Regiment wird von Haber persönlich geleitet, der den anfangs offenbar skeptischen Hahn mit dem Argument auf Vordermann bringt, die chemischen Waffen würden den Krieg schneller beenden und daher effektiv Menschenleben retten. Was der joviale Hahn sich als Philosophie zu eigen macht, sodass er «später durchaus mit Überzeugung» [Hah 3 :130] die Soldaten an den Stahlzylindern ausbildet und selbst Gasangriffe an der Ostfront leitet.
    Offenbar angeregt durch die ersten Kriegserfahrungen, kommt Hahn auf die naheliegende Idee, auch radioaktive Substanzen in der Waffentechnik nutzbar zu machen. Eine Anwendung von Radium und Mesothor hat er sich selbst ausgedacht. Fern von Materialien und Apparaten, beauftragt er Lise Meitner per Feldpost, sich um die Entwicklung einer radioaktiven Leuchtmasse zu kümmern. Sie soll auf die Zielvisiere von Gewehren gestrichen werden, damit die deutschen Soldaten auch noch nachts schießen können – so Hahns Überlegung. Lise Meitner verbündet sich mit ihrem Chemikerkollegen Otto von Baeyer zu ersten Versuchsreihen mit Radiothor und Saponlack, einer Mischung aus Celluloid und Azeton. Dieses Präparat hält starken Erschütterungen stand, löst sich auch unter fließendem Wasser nicht auf und lässt sich ohne Beeinträchtigung seiner Funktion bis auf 90 Grad Celsius erhitzen. Eine Probe davon trägt Meitner auf einen dünnen Kupferdraht auf und schickt ihn zur Begutachtung an Hahn, den Agenten des chemischen Krieges an wechselnden Fronten. Am 9. Januar 1915 schreibt sie: «Ich habe durch Messung festgestellt, dass der Saponlack für die Wirkung nicht stört, und er bildet dazu noch eine Schutzschicht» [Ern:29]. Drei Wochen später geht von Berlin aus ein Päckchen mit «zwei verhältnismäßig starken Radium-Zinksulfid+Saponlack-Mischungen … in zwei kleinen Flascherln verpackt …» [Ern:35] an den Vizefeldwebel der Landwehr ab. Hahn soll sich, so die nachvollziehbare Vorstellung der Heimatfrontkämpfer Meitner und Baeyer, mit Versuchen an seinem

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