Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
gewisse Schwächen in dessen Elektronentheorie zu diskutieren. Doch der Institutsleiter scheint den vielversprechenden Nachwuchsforscher gar nicht wahrzunehmen. Bohrs mühsam ins Englische übersetzte Dissertation bleibt monatelang auf Thomsons Schreibtisch liegen. Ein Gedankenaustausch findet nicht statt.
Doch dann erlebt Bohr im Trinity College beim jährlichen Festessen in Erinnerung an die Entdeckung des Elektrons den Ehrengast des Abends: Ernest Rutherford. Aufgekratzt von der noch frischen Erfahrung, ein neues Atommodell lanciert zu haben, spricht er an seiner alten Wirkungsstätte mit väterlichem Stolz über sein «Saturnatom». Zu vorgerückter Stunde bringt er die Dinnergäste mit donnernder Stimme dazu, auf die Stühle zu steigen, sich an den Händen zu fassen und die alten Lieder aus Studentenzeiten inklusive schlüpfriger Geheimstrophen zu singen. Mit der Autorität des fröhlichen Wissenschaftlers lässt er junge Doktoranden und ehrwürdige Professoren Limericks und Trinksprüche aufsagen. Niels Bohr ist beeindruckt von der Ungezwungenheit und dem eigenwilligen Charme des Bauernsohns aus Neuseeland und schließt ihn bereits an diesem ersten Abend ins Herz. Er weiß jetzt, dass er an Rutherfords Seite gehört. Im März 1912 verlässt er Cambridge in Richtung Manchester.
Bohr hat eine athletische Figur, ein markantes Kinn und große Hände. Seine drahtigen Haare hat er wie eine steile Meereswelle nach hinten gekämmt. Dadurch wirkt seine enorm hohe Stirn noch beeindruckender. Als Torwart hatte er mit der Kopenhagener Universitätsmannschaft sehr erfolgreich Fußball gespielt. Hartnäckig hält sich das Gerücht, er habe Zahlenreihen und Formeln an die Torpfosten gekritzelt, wenn ihm mitten im Spiel etwas Wichtiges einfiel. Niels Bohr versteht sich mit Rutherford von Anfang an prächtig. Der hat in seiner Jugend in Neuseeland leidenschaftlich Rugby gespielt – zwei Mannschaftsspieler also, die aber auch beherzt «in den Gegner gehen» können. Der Entdecker des Atomkerns ist entzückt über die zupackende Art des jungen Mannes und weiß dessen vielfältige Interessen zu schätzen. Mit dem scharfsinnigen Bohr kann er über Alltägliches, Philosophisches oder über Kunst diskutieren.
Rutherford, der elf spätere Nobelpreisträger unter seinen Schülern hatte, sagt ohne zu zögern: «Dieser junge Däne ist der intelligenteste Bursche, den ich je getroffen habe» [Moo:48]. Hans Geiger und Ernest Marsden, die fleißigen Alphateilchenzähler, machen Bohr mit den experimentellen Methoden der neuen Nuklearwissenschaft vertraut. Zu dieser Zeit sind nahezu alle Radiochemiker mit dem Problem beschäftigt, dass zwei Substanzen mit unterschiedlichen Atomgewichten die gleichen chemischen Eigenschaften haben können und deshalb eigentlich beide denselben Platz im chemischen Periodensystem einnehmen müssten. Es gibt also mehr radioaktive Substanzen, als Plätze auf dieser Tafel zur Verfügung stehen. Auch Rutherford weiß auf dieses seltsame Phänomen keine Antwort. Frederic Soddy arbeitet unter Hochdruck daran.
Bohr zieht nun aus dieser paradoxen Situation einen Schluss, der die Wissenschaftler in Manchester verblüfft. Er geht von Rutherfords Annahme aus, dass nahezu die gesamte Masse des Atoms im Kern konzentriert und die Masse der Elektronen eigentlich zu vernachlässigen sei. Wenn also Stoffe mit unterschiedlichen Kernmassen chemisch identisch sein können, dann wird der Kern wohl auch keinen Einfluss auf die Chemie des Elements haben. Wäre es daher nicht plausibel, fragt sich Bohr, Zahl und Anordnung der um den Kern kreisenden Elektronen als die entscheidenden Faktoren für die chemischen Eigenschaften anzusehen? Während im Kern «nur» der radioaktive Zerfall, also ein physikalischer Prozess, stattfinde. Aus diesem Blickwinkel lässt sich Rutherfords Saturnatom als Modell für die Liaison von Chemie und Physik auf atomarer Ebene betrachten.
Natürlich ist Bohr mit Plancks Arbeit vertraut und kennt auch die Lichtquantenhypothese Einsteins. Und so wäre er nicht der Erste, der lieber die Heroen Newton und Maxwell anzweifelt, als eine unorthodoxe, aber die Realität befriedigend erklärende Hypothese aufzugeben. Dennoch weiß er natürlich um die Bedeutung seines Untersuchungsgegenstands. Hier geht es ja um nichts Geringeres als um die Struktur des Atoms, um die prima materia selbst, den Grund aller Dinge. Und ausgerechnet hier sollten die so überaus erfolgreichen Naturgesetze versagen? Niels Bohr bringt
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