Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
strahlendem und sichtbar leuchtendem Mesothor. Damit schreibt er den Namen des Bayer-Direktors auf eine fotografische Platte. Die wird sofort entwickelt, sodass das Publikum die Radiographie auch gleich bestaunen kann. Beim exquisiten abendlichen Festbankett zieren aus Holland herbeigeschaffte Orchideen die Tische, während der Wein in Thermosgefäßen mit flüssiger Luft gekühlt wird [Hah 3 :105].
Die deutsche Chemie-Industrie ist führend in der Welt. Und so fordert denn auch ein halbes Jahr später das preußische Kriegsministerium einen Beitrag der Chemiker zum Krieg. In den Bayer-Werken fallen bei der Produktion jede Menge giftige Zwischenprodukte an, die jetzt an Fritz Habers Institut in Berlin-Dahlem geliefert werden. Dort sollen die Substanzen auf ihre Brauchbarkeit für den Kriegseinsatz untersucht werden. Haber ist bei Kriegsausbruch 46 Jahre alt. Als Jude in Breslau geboren, konvertierte er im Alter von 25 Jahren zum Protestantismus, denn im Kaiserreich herrscht eine latent antisemitische Stimmung. Als Protestant lässt sich in Preußen leichter Karriere machen. Das Kriegsministerium muss ihn nicht lange bitten. Der leidenschaftliche Patriot stürzt sich in die Arbeit und sorgt zunächst mit neuentwickelten Frostschutzmitteln dafür, dass im bevorstehenden Winter der motorisierte Vormarsch der deutschen Truppen in Russland nicht ins Stocken gerät und die Schmiermittel für die Artilleriegeschütze nicht einfrieren.
Aber das sind nur Aufwärmübungen für den ehrgeizigen Chemiker. Immerhin hat er bereits vor fünf Jahren eine enorm kriegswichtige Erfindung gemacht, die seinen Weltruf als Chemiker begründet hat. Aus nahezu kostenlosen und unerschöpflichen Quellen hat Haber einen Stoff gewonnen, mit dem sich im Prinzip der Hunger in der Welt wirksam bekämpfen ließe. Einen Bestandteil der Ammoniak genannten Substanz hat er buchstäblich aus der Luft gegriffen. Die Atmosphäre der Erde besteht zu drei Vierteln aus Stickstoff. Und Haber ist gelungen, was Generationen von Chemikern vor ihm für aussichtslos hielten, nämlich mit seinen Apparaten den Stickstoff der Luft einzufangen und festzuhalten. Wasserstoff als zweite Komponente von Ammoniak steht, ebenfalls praktisch unbegrenzt, im Wasser zur Verfügung. Und dieses stechend riechende Gas ist Ausgangsprodukt für Kunstdünger, der angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung zunehmend an Bedeutung gewinnt. In Zusammenarbeit mit dem BASF-Chemiker Carl Bosch hat der geniale Synthetiker die Produktion von Stickstoffdünger obendrein auf eine großindustrielle Basis gestellt.
Fritz Haber hat sich selbst stets als unermüdlich schaffenden Forscher im Dienst der Menschheit verstanden. Doch jetzt, in der Euphorie der ersten Kriegsmonate, hat er seine wahre Bestimmung erkannt und sein Lebensmotto an die neue Situation angepasst: «Im Frieden der Menschheit, im Krieg dem Vaterland». Denn die Ammoniaksynthese führt nicht allein zu besseren Ernten von Weizen, Mais und Reis. Ammoniak lässt sich nämlich auch mit der Stickstoffverbindung Salpetersäure zu Ausgangsprodukten für Munition und Sprengstoff verarbeiten. Während alle anderen Kriegsparteien auf Chile als den Haupterzeuger von natürlichem Salpeter angewiesen sind, kann sich der deutsche Kaiser auf seine tüchtigen Chemiker von der BASF verlassen. Ohne das Haber-Bosch-Verfahren ginge den deutschen Soldaten schon Mitte 1915 die Munition aus, da die britische Marine die Schiffe mit dem für Deutschland bestimmten Salpeter abfängt. Mit der Haber’schen Ammoniaksynthese und der von Carl Bosch initiierten großindustriellen Produktion stößt die deutsche Chemie in geradezu sagenhafte Dimensionen vor. Fast fühlt man sich in das Märchen «Tischlein deck dich» versetzt. Kunstdünger verspricht die reich gedeckte Speisetafel, während mit dem Befehl «Knüppel aus dem Sack» das Ammoniak in einen Explosivstoff umgewandelt werden kann. Menschen ernähren und Menschen töten: Aus diesem Dilemma wird sich die Wissenschaft in künftigen Kriegszeiten nicht mehr befreien können. Nur der Pazifist Albert Einstein lässt sich nicht von der Kriegseuphorie seiner Dahlemer Kollegen mitreißen. Als distanzierter Beobachter ist er dennoch fasziniert, wie die deutschen Wissenschaftler mit viel Einfallsreichtum die Kriegsmaschine in Schwung halten. Seinem Freund Romain Rolland berichtet er: «Diese umfassende organisatorische Geschicklichkeit ist fast unvorstellbar. Alle an Universitäten tätigen Gelehrten haben
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