Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
und Augenlider mit dem «Neuen Licht», wie die Firma das innovative Produkt anpreist. Wie wird wohl der Lover reagieren, wenn sie das elektrische Licht ausknipst und zehn leuchtende Fingerspitzen nach ihm ausstreckt?
Und denkt daran, sagt die Vorarbeiterin lächelnd zu den jungen Frauen, früh genug den Pinsel wieder zurechtspitzen. Je schneller ihr arbeitet, umso mehr könnt ihr verdienen. Sie selbst hat es nie vorgemacht, weil sie die Entwicklungsabteilung und das Labor der Firma kennt. Dort benutzen die Chemiker Zangen, Bleiabschirmungen und Mundschutz beim Hantieren mit Radium. Später entdecken die Mädchen, dass sie sich gar nicht selbst anmalen müssen, um eine überraschende Wirkung zu erzielen. Denn der stets aufwirbelnde Staub in der Fabrik setzt sich überall fest. Haare, Kleider und Unterwäsche strahlen im Dunkeln – als sei die gute Fee Tinkerbell mit dem limonengrünen Kleid zu den «Radium Girls» geflogen und habe ihren Glitzerstaub über sie ausgestreut. Anfangs präsentieren sie Verwandten und Freunden ihren unfreiwilligen Glanz noch als Jux. Eines der Mädchen steigt sogar bereitwillig in den großen dunklen Kleiderschrank, damit man ihr schimmerndes Haar schon vor Sonnenuntergang bewundern kann. Aber als sie die aschgrünen Flecken dann auch auf Gesicht, Armen, Beinen und Rücken entdecken, hört der Spaß auf.
In der Nachkriegszeit gibt es an den Physikinstituten Europas offenbar nur ein Gesprächsthema: Die zunehmende Fülle an Publikationen über Niels Bohrs Atomstrukturmodell. Vor allem Arnold Sommerfeld, Professor für Theoretische Physik an der Universität München, hat während des Kriegs einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet und Bohrs Elektronenbahnen verallgemeinert. Dabei sind zusätzliche elliptische Kurven ins Spiel gekommen, sodass die ursprünglichen Kreisbahnen um den Kern jetzt nur noch Sonderfälle sind. Sommerfeld hat herausgefunden, dass auch die Ellipsen selbst mit ihren geometrischen und mechanischen Eigenschaften den Quantengesetzen gehorchen und eine gestückelte Struktur haben. Das Atommodell bekommt jetzt eine gesetzliche Grundlage unter Quantenbedingungen: Aus der zunächst unerschöpflichen Fülle vorstellbarer Bahnen bleiben Größe, Form und Orientierung der Ellipsen auf bestimmte Stufen und Einheiten beschränkt. In der Einleitung seiner Arbeit stellt Sommerfeld für das verbesserte Planetenmodell des Atoms eine ideengeschichtliche Nähe zu einem berühmten Astronomen her. Während Nikolaus Kopernikus 1509 erstmals die Sonne zum Zentralgestirn erklärte und den Planeten kreisförmige Bahnen um die Sonne verordnete, konnte Johannes Kepler hundert Jahre später die Verkehrswege im Weltall als Ellipsen beschreiben – in der Tat eine bemerkenswerte Parallele zu den Elektronenbahnen Bohrs und Sommerfelds.
Zu Beginn der 1920er Jahre vertrauen Bohr und Sommerfeld bei der Beschreibung der fundamentalen Ebene der Natur auf die archetypische Kraft des heliozentrischen Planetenmodells, das Kopernikus und Kepler begründet haben. Bei der Visualisierung wesentlicher Zustände des Atoms wie Energieniveaus, ganzzahlige Abstände zwischen den Spektrallinien und Elektronensprünge auf benachbarte Bahnen leistet das Planetenmodell vorerst gute Dienste. Sommerfeld selbst stellt die Verbindung her zwischen Keplers Harmonie der Sphären und der «Sphärenmusik des Atoms – ein Zusammenklingen ganzzahliger Verhältnisse, eine bei aller Mannigfaltigkeit zunehmende Ordnung und Harmonie» [Som: VII].
Im November des vergangenen Jahres ist der Ruhm wie eine Naturgewalt über Albert Einstein hereingebrochen. Seine 1915 veröffentlichte allgemeine Relativitätstheorie ist erstmals durch astronomische Beobachtungen bestätigt worden. Im Gegensatz zu Isaac Newtons Gravitationstheorie wird in Einsteins Universum auch das Licht von der Schwerkraft beeinflusst. Einstein sagte voraus, der geradlinige Lichtstrahl eines fernen Sterns werde in der Nähe eines massereichen Objekts von dessen Gravitationsfeld geringfügig, aber messbar von seinem Kurs abgelenkt. Nun hat im Mai 1919 der Direktor der Sternwarte Cambridge, Sir Arthur Eddington, während einer Sonnenfinsternis vor der Westküste Afrikas genau diesen von Einstein vorhergesagten Lichtablenkungseffekt beobachtet. Er fotografierte dreizehn Sterne in der Nähe der verdunkelten Sonnenscheibe und verglich die Aufnahmen mit den Positionen derselben Sterne, die einige Monate zuvor gemacht worden waren. Und so konnte Eddington
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