Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
ist der Große Krieg zu Ende, und die Donaumonarchie Österreich-Ungarn löst sich auf. St. Joachimsthal gehört jetzt samt seiner strahlenden Bodenschätze der neugegründeten Tschechoslowakei.
Nach dem verlorenen Krieg wird Fritz Haber nervös und taucht eine Zeit lang unter. Er fürchtet ein Kriegsverbrechertribunal der Siegermächte gegen ihn als Hauptverantwortlichen für die chemische Kriegsführung. Und ein anderes Urteil als den Tod könne er ja wohl kaum erwarten, vertraut er Hahn an. Der erzählt, der Flüchtige habe sich einen Vollbart wachsen lassen, um nicht sofort erkannt zu werden. Doch nichts geschieht. Weder Haber, noch andere Wissenschaftler in leitender Position werden wegen Verletzung der Haager Kriegskonventionen zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil: Von einer internationalen Ächtung Habers kann überhaupt keine Rede sein. Denn unmittelbar nach dem Krieg wird ihm für die Ammoniak-Synthese der Chemie-Nobelpreis verliehen. Haber bleibt überzeugt, einen großartigen Beitrag zur Humanisierung der Kriegsführung geleistet zu haben, und schwärmt weiter von der überragenden Effizienz des Gaseinsatzes im Vergleich zu Kanonenkugeln und Gewehrpatronen. 1919 wird Haber zum «Reichskommissar für Schädlingsbekämpfung» ernannt. Er setzt Verfahren und Entwicklungen in Gang, die zu einem Vergasungsmittel für Nagetiere und Ungeziefer mit dem Namen «Zyklon B» führen sollten.
Ernest Rutherford hat im Krieg Methoden entwickelt, deutsche Unterseeboote akustisch aufzuspüren. Bei der Beschreibung seiner eigenen Forschungsversuche bleibt Rutherford beim Militärjargon. Denn auch in seinem Institut in Manchester geht es um eine höchst raffinierte Angriffstaktik. Er bereitet nämlich nichts Geringeres vor als direkte Attacken auf den Atomkern. Bisher gibt es ja nur Spekulationen über die Bestandteile des Kerns, zurückhaltende Abstraktionen wie das Bohr’sche Atommodell. Aber wer wirklich ins Innerste der Materie blicken will, muss den Kern tatsächlich aufbrechen. Rutherford schießt jetzt schnelle Alphateilchen auf Stickstoff ab. Wie bei den historischen Versuchen mit Goldfolie, in deren Verlauf er den Atomkern entdeckt hat, beobachtet er auch dieses Mal das vertraute Glitzern auf dem Zinksulfidschirm. Allerdings zucken dabei zusätzlich noch erheblich schwächere Lichtblitze auf als die von Alphateilchen ausgelösten Szintillationen.
Als Rutherford seine Radiumquelle immer weiter vom Leuchtschirm wegschiebt, verschwinden die für Alphateilchen typischen Lichter, während die schwächeren Blitze weiterhin sichtbar sind. Da diese nun also definitiv nicht aus der Radiumquelle stammen können, kommt für Rutherford nur eine Schlussfolgerung in Frage: Es müssen die Spuren von Teilchen sein, deren Reichweite in der Luft offenbar größer ist als die der Alphateilchen. Und sie müssen aus dem angegriffenen Kern des Stickstoffatoms entwichen sein. Zunächst denkt er an eine Anomalie des Stickstoffs. Nun lassen sich aber genau diese Lichtspuren nicht von denen unterscheiden, die Rutherford schon beim Wasserstoff untersucht hat. In der großen Leere des Wasserstoffatoms zieht nur ein einsames, negativ geladenes Elektron seine Bahn. Um die elektrische Neutralität des Atoms zu bewahren, kann in seinem Kern auch nur ein einziges positiv geladenes Teilchen existieren. Könnte dieses spezielle Kernteilchen womöglich der grundlegende materielle Baustein sämtlicher Elemente sein? [Rut 2 ]
Es ist Rutherford geglückt, bei der Kollision von Alphateilchen mit dem wesentlich schwereren Stickstoffatom ein Stück vom Kern abzusplittern. Das ist ein völlig unerwarteter Effekt und so unglaublich, als sei ein Spatz mit einem Einfamilienhaus zusammengestoßen und habe dabei den Schornstein abrasiert. So ist Rutherford ein erster Blick auf die tiefste Ebene der Materie vergönnt gewesen. Und offenbar ist sie aus lauter Kernteilchen des Wasserstoffs zusammengesetzt. Bei der Kollision mit den Alphateilchen ist genau so ein Kernbaustein aus dem Stickstoffatom herausgeschleudert worden, wobei sich der Stickstoff in Sauerstoff umgewandelt hat. Und das heißt: Ernest Rutherford ist hier die erste künstliche Kernumwandlung der Geschichte gelungen.
Die Umwandlung der Elemente im radioaktiven Zerfall ist ein natürlicher Prozess, den der Mensch zwar beobachten, in den er aber nicht eingreifen konnte. Von nun an aber steht es jedem Forscher frei, mit der von Rutherford beschriebenen Apparatur und den entsprechenden
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