Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
amerikanischen Chirurgenverbands skeptisch über den künftigen Einsatz von Radium in der Krebstherapie. Der bisherige Nutzen der spektakulären Behandlung sei außerordentlich gering gewesen. Lediglich bei äußerlich zugänglichen und weniger bösartigen Tumoren habe man mit Radium gewisse Heilwirkungen erzielt. Bei Karzinomen innerer Organe wie Magen und Darm sei Radium hingegen völlig ungeeignet. Der Streit zwischen Befürwortern und Skeptikern kocht in den USA schon seit Jahren auf kleiner Flamme, ist aber vor einem halben Jahr eskaliert. Im Mai 1921 nämlich kommt Marie Curie als Gast eines amerikanischen Frauenverbands nach New York. Die Ladys haben 100 000 Dollar gesammelt, um der verehrten zweimaligen Nobelpreisträgerin ein Gramm Radium schenken zu können, das ihr Präsident Harding im Weißen Haus persönlich überreichen soll. Schon bei ihrer Ankunft im Hafen von New York fällt den Reportern der angegriffene Gesundheitszustand von Madame Curie auf. Sie können sich nicht einigen, ob der ganz in Schwarz gekleidete Gast aus Paris einen talarähnlichen Gehrock oder gar einen schlichten Laborkittel trägt. Schwarze Handschuhe verbergen ihre entzündeten Hände, und die alte Geschichte vom schwarzen Allzweckhochzeitskleid macht wieder die Runde. Sie wolle, erklärt Curie der Presse, mit dem Radiumgeschenk ihre Experimente fortführen und bessere Krebsheilmethoden finden: «Radium ist ein wirksames Mittel. Es hat bereits alle möglichen Krebsarten geheilt, darunter sogar schwerste Fälle.» Die Skeptiker unter den Ärzten weist sie mit den Worten zurecht: «Wendet man Radium richtig an, gibt es auch Heilerfolge. Wer dabei gescheitert ist, versteht sein Handwerk nicht» [NYT 2 ].
Gleichzeitig bahnt sich in einer Fabrik in New Jersey eine Tragödie an. Sie dämpft die Radiumeuphorie und führt zu der Erkenntnis, dass man Krebs mit Radium nicht nur behandeln, sondern auch verursachen kann. Obwohl sich Radiumleuchtmasse für Gewehrvisiere gegen Ende des Weltkriegs als Fehlschlag erwiesen hat, setzt das Militär sie immerhin noch für nachtleuchtende Beschriftungen ein. Zunehmend an Bedeutung gewinnt sie inzwischen aber auch in unterschiedlichen Lebensbereichen. So erfreuen sich etwa illuminierte Lichtschalter, Telefone und Feuerlöscher sowie selbstleuchtende Tachometer und Tankanzeigen in Automobilen wachsender Beliebtheit. Die Marine entdeckt den Nutzen leuchtender Kompassnadeln und sichtbarer Umrisse von Navigationsinstrumenten in der Dunkelheit. Die Firma US Radium überzieht in ihrer Fabrik in East Orange, keine 20 Kilometer von Manhattan entfernt, Türklingelknöpfe, Theatersitznummern, Angelköder und Puppenaugen mit dem selbstleuchtenden Anstrich namens Undark . Das Hauptprodukt aber sind Leuchtzifferblätter für Armbanduhren und Wecker.
Undark ist eine spezielle Mischung aus Radium, Wasser, Klebstoff und Zinksulfid. Hier taucht das Prinzip der Szintillation auf einer neuen Anwendungsebene wieder auf. Denn betrachtet man die Leuchtfarbe unter einem Mikroskop, lässt sich das gleiche Phänomen beobachten, das den Physikern Elster und Geitel, Rutherford und Geiger, Hahn und Meitner tiefste Einblicke in die Struktur des Atoms erlaubt: Winzige Lichter blitzen auf, wenn Alphateilchen wie Projektile aus den zerfallenden Radiumatomen hervorschießen und auf die Zinksulfidkristalle treffen. Auf dem Armaturenbrett im Auto oder auf der Armbanduhr nimmt das träge Auge statt 200 000 winziger Explosionen in der Sekunde nur ein gleichmäßig mattes, grünlichweißes Leuchten wahr.
In der geräumigen, aber notorisch staubigen Fabrikhalle in East Orange, New Jersey, sitzen Dutzende junger Frauen vor einer riesigen Fensterfront über ihre Arbeitstische gebeugt, tauchen äußerst feine Pinsel aus Kamelhaar in die Leuchtfarbe und malen die Ziffern für die Uhren damit aus. Nach ein paar Strichen spreizt sich die Pinselspitze. Die Frauen sind vom Management angewiesen worden, den Pinsel mit Lippen und Zunge wieder in Form zu bringen, was ihnen leichtfällt, denn Undark schmeckt neutral. Das Betriebsklima ist heiter bis sonnig. So manches Highschool-Mädchen verdient hier in den Sommerferien sein erstes Geld. Die Festangestellten sind begeistert und werben Schwestern, Cousinen und Freundinnen an. In der familiären Atmosphäre wird viel gescherzt. Und als Albina von ihrem neuen Boyfriend erzählt, wird aus einer im Übermut entstandenen Idee Wirklichkeit. Zum nächsten Date bemalt sie sich Fingernägel, Lippen
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