Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Buch auf das Dach des Georgianums zu klettern, sich dort in die Sonne zu legen und zu lesen. Er macht sich mit Demokrits Lehre von den Atomen vertraut, den unteilbaren kleinsten Teilchen der Materie, aus denen alles Seiende bestehen soll. Begeistert liest er Platons Dialog Timaios im griechischen Original und stößt dabei auf dessen seltsame Vermutung, die Atome könnten auf einen nichtmateriellen Ursprung hindeuten. Platon glaubt, diese Elementarteilchen ließen sich in gleichseitige Dreiecke zerlegen und aus solchen Gebilden auch wieder aufbauen. «Die Dreiecke selbst sind nicht Materie», resümiert Heisenberg später, «sie sind nur noch mathematische Form … Die Frage nach dem Warum der Elementarteilchen wird von Platon auf Mathematik zurückgeführt … Die letzte Wurzel der Erscheinungen ist also nicht die Materie, sondern das mathematische Gesetz …» [Hei 1 :22 f.].
Der schlaksige junge Mann aus New York, der an einem Sommertag des Jahres 1921 unangemeldet auf einem Bergwerksgelände im tschechischen St. Joachimsthal steht, ist erstaunlich gut informiert. Offenbar ist er mit der Geschichte des Silberbergbaus auf dieser Seite des Erzgebirges vertraut, wo die Gruben Segengottes oder Gottesgab heißen und die erzführenden Adern nach dem Evangelisten Johannes benannt oder der Rose von Jericho gewidmet sind. Der siebzehnjährige Robert Oppenheimer mag in seinen Bewegungen linkisch wirken, aber er weiß genau, was er will. Er ist nicht speziell an der berühmten Joachimsthaler Pechblende interessiert, aber er möchte hier, in diesem legendären Bergbaurevier, ein paar bunte Steine und schöne Kristalle für seine Mineraliensammlung kaufen. Schon seit einigen Wochen ist er ganz allein im fremden Land auf Exkursion, während seine Eltern den Sommer in Hanau verbringen. Sein Vater Julius ist hier geboren und möchte seinem Robert das Land nahebringen, in dem er seine Wurzeln hat.
Julius Oppenheimer und seine Frau Ella stammen aus deutsch-jüdischen Familien. Er selbst ist 1888 mit siebzehn Jahren nach Amerika ausgewandert und ist in New York mit einem Textilimportgeschäft reich geworden. Ellas Eltern stammen aus Bayern. Sie hat in Paris Malerei studiert und unterrichtet Schüler in ihrem eigenen Atelier in New York. Als Robert mit seiner Beute, einem ganzen Koffer voller Mineralien, wieder nach Hanau zurückkommt, hat er sich irgendwo durch verdorbene Lebensmittel oder verseuchtes Trinkwasser eine bakterielle Infektion eingefangen. Er ist so schwer an der Ruhr erkrankt, dass seine Eltern eine Zeit lang um sein Leben fürchten. Für eine Schiffsreise nach Amerika ist er jedenfalls zu schwach. So muss er unfreiwillig bis in den September hinein seine Krankheit in Deutschland auskurieren und auf das geplante erste Semester an der Harvard University verzichten. Als er schließlich im Spätherbst wieder in New York eintrifft, hat er sich bei der Ruhrinfektion im Land seiner Vorfahren eine chronische Dickdarmentzündung eingehandelt, die ihn sein Leben lang begleiten wird.
Wenn sich die «Gruppe Heisenberg» im Englischen Garten zum Speerwerfen trifft, sollten weniger sportliche Spaziergänger lieber ans Isarufer ausweichen. Denn was diese verwegene Meute von zehn oder zwanzig Jugendlichen da veranstaltet, ist kein normaler Wettbewerb, bei dem der Athlet mit dem weitesten Wurf gewinnt. Es werden zwei Mannschaften aufgestellt, die sich in einiger Entfernung gegenüberstehen. Ein Wettkämpfer schleudert einen Speer zwar möglichst weit und hoch in die Luft hinaus, aber in Richtung gegnerische Mannschaft. Ein Mitglied dieser Gruppe muss nun dem Speer entgegenlaufen und ihn noch im Flug abfangen. Sollte dies dem Spieler misslingen, ist er ausgeschieden [Cas:109]. Werner Heisenberg liebt solche gefährlichen Spiele, in denen die ihm anvertrauten Jungen im Bund bayerischer «Neupfadfinder» ihren Mut beweisen können.
Aus der deutschen Jugendbewegung der Wandervögel und ähnlicher männerbündischer Gemeinschaften haben sich nach der Katastrophe des Weltkriegs Gruppen mit unterschiedlichen Zielen herausgebildet. Sie wollen nach dem Zusammenbruch der Monarchie, nach Hungerblockade, rotem Chaos und weißem Gegenterror eigene Wege gehen und sich neue Werte suchen.
Paradoxerweise schauen sie dabei weit in die Vergangenheit zurück. Ihre Überzeugungen klingen in den Ohren der Erwachsenen denn auch unausgereift romantisch und hoffnungslos idealistisch. Sie schwärmen von ihrem «Weißen Ritter», der für
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