Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
von denen nur der Anfang ausgesprochen wurde und deren Ende sich im Halbdunkel einer für mich sehr erregenden philosophischen Haltung verlor» [Hei 2 :50], erfasst Heisenberg die Stimmung im Saal.
Und er ist selbstbewusst genug, in Bohrs philosophisches Halbdunkel vorzustoßen und dort Licht zu verbreiten. Für die meisten Zuhörer ist es die erste Begegnung mit Niels Bohr, der inzwischen im gleichen Atemzug mit Albert Einstein genannt wird. Die deutschen Professoren sind entzückt. Sie wissen es zu schätzen, dass Bohr den internationalen Kulturboykott gegen Deutschland ignoriert, und genießen daher den Besuch des führenden Atomtheoretikers. Bohr bringt den lang ersehnten internationalen Glanz an die ruhmreiche Universität zurück. Entsprechend dankbar und ehrerbietig lauschen die Spitzenvertreter der deutschen Wissenschaft den Vorträgen des berühmten Dänen und stellen in den sich anschließenden Diskussionen dann auch eher zurückhaltend und respektvoll Verständnisfragen, statt offene Kritik zu wagen. Umso verblüffter reagiert das Publikum, als sich am Ende der dritten Vorlesung ein schmalschultriger «blonder Jüngling», der auch als «Bauernbub oder Schreinerlehrling» hätte durchgehen können, von seinem Platz in einer hinteren Reihe erhebt und dem Meister in einem bestimmten Punkt hartnäckig widerspricht.
Niels Bohr hat nämlich dem Göttinger Publikum gerade die Berechnungen seines Assistenten Hendrik Kramers zur Aufspaltung der Spektrallinien in einem elektrischen Feld als Bestätigung seiner Zentralmetapher vom atomaren Planetensystem verkaufen wollen. Der zwanzigjährige Heisenberg kennt Kramers’ Arbeit, kritisiert jetzt gnadenlos dessen heiklen Rückgriff auf klassische Methoden, will grundsätzliche Fehler entdeckt haben und lässt vermeintliche Beweise höchstens als Grenzfälle gelten. Unbekümmert führt er dem überraschten Bohr die Mängel in allen peinlichen Details vor [Hei 1 :53].
«In der Diskussion hat er sich tapfer verteidigt, und wir staunten ihn an» [Bop:2], erinnert sich Heisenbergs späterer Freund und Kollege Friedrich Hund. Viertes Semester, empören sich die Etablierten. Dann kann er ja noch nicht einmal promoviert haben. Bohr ist beunruhigt und gerät ins Wanken. Es gelingt ihm nicht, Heisenbergs Einwand zu parieren. Doch erkennt er sehr wohl die Vertrautheit des Sommerfeldschülers mit den Schwachstellen seiner Theorie. Im Anschluss an die Veranstaltung lädt Bohr den jungen Mann zu einem Spaziergang ein – eine Wertschätzung, auf die so mancher Professor neidisch gewesen sein dürfte. Heisenberg wird bei dieser Freiluftaudienz klar, dass Bohr in erster Linie Philosoph und dann erst Physiker ist. Der die Bilder für die atomaren Prozesse mit Fragezeichen umrahmt und nur zögernd präsentiert. Der sie eher errät und erfühlt, statt sie abzuleiten. Der seiner eigenen Theorie skeptischer gegenübersteht als beispielsweise Sommerfeld. Der zwar grundsätzlich bereit ist, sich von der anschaulichen Beschreibung der Atomstruktur zu lösen, die neue Sprache aber noch nicht kennt, mit deren Vokabular eine Verständigung gelänge.
Niels Bohr kann am Nachmittag des 14. Juni 1922 unmöglich wissen, dass er hier – auf diesem Spaziergang über den bewaldeten Hainberg am Stadtrand von Göttingen – mit dem Mann unterwegs ist, der die Quantentheorie aus ihrer Krise herausführen kann. Aber ähnlich intuitiv, wie Bohr seine Atomphysik betreibt, sucht er auch die Menschen aus, denen er die Kreativität und den Mut zutraut, die inneren Widersprüche der Quantentheorie zu lösen. Die Einladung zu einem Studienaufenthalt in Kopenhagen kann der Student getrost als Ritterschlag verstehen.
Während Arnold Sommerfeld im Herbst 1922 für ein halbes Jahr eine Gastprofessur in den USA annimmt, studiert Heisenberg bei Max Born in Göttingen, promoviert im Sommer 1923 bei Sommerfeld in München und kehrt im Oktober desselben Jahres als Borns Assistent nach Göttingen zurück. Zu diesem Zeitpunkt hat die Inflation ihren absurden Höhepunkt erreicht. Hatte Heisenberg im Jahr zuvor für ein Stück Butter 750 Mark bezahlt, damit seine Zimmerwirtin ihm gelegentlich abends noch Bratkartoffeln zubereiten konnte, kostet jetzt ein Kilo Roggenbrot eine halbe Billion Mark. In enger Zusammenarbeit mit Born nimmt Heisenberg eine gründliche Reform der Quantenregeln in Angriff, die dem Bohr-Sommerfeld’schen Atommodell zugrunde liegen. Ihre gemeinschaftlichen Versuche, durch Hinzufügung neuer
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