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Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Titel: Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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Physikalischen Seminar von Arnold Sommerfeld in München, hat allerdings den Eindruck, als klebten Bohr und Sommerfeld viel zu sehr an ihrem anschaulichen Planetenmodell, als nähmen sie ihre erfolgreiche Metapher zu wörtlich [Fis 2 :53]. Noch gibt es zu viele Ungereimtheiten im Lehrgebäude und Abweichungen vom System. Werden etwa die durch Erhitzung angeregten Atome magnetischen Feldern ausgesetzt, spalten sich die Spektrallinien, die als Fingerabdruck eines Elements gelten, in rätselhafte feinere Unterlinien auf. Wirkliche Fortschritte bei der endgültigen Formulierung einer Quantentheorie des Atoms seien wohl nur mit dem Verzicht auf Anschaulichkeit erreichbar. Ist die Atomtheorie zu Beginn der 1920er Jahre ohnehin schon eine komplexe, schwer begreifliche Vereinigung klassischer Prinzipien mit Quantenregeln, so scheint sie jetzt zunehmend abstrakter zu werden.
    Inzwischen ist Niels Bohr auf der ganzen Welt als Vortragsredner gefragt. Im Juni 1922 kommt er, mit sieben Vorträgen im Gepäck, endlich auch einmal nach Göttingen, ins weltberühmte Zentrum der Mathematik. Für das Sommersemester 1922 sind an der Georg-August-Universität 311 Frauen eingeschrieben, immerhin rund zehn Prozent der Studentenschaft – eine erfreuliche Entwicklung seit den Pioniertaten von Marie Curie und Lise Meitner.
    Arnold Sommerfeld hat seinem Studenten Werner Heisenberg die Fahrt von München nach Göttingen spendiert. Er soll den großen Niels Bohr einmal persönlich erleben. Auf dem Göttinger Bahnhof herrscht großes Durcheinander und drangvolle Enge, weil gerade die Schienenwege höhergelegt werden. Die Münchener müssen sich den Weg zum Ausgang durch die Güterhalle bahnen, vorbei an Schutthaufen und Baugruben. Als sie den Bahnhofsvorplatz betreten, wehen die Fahnen wegen der Abtrennung Ostoberschlesiens vom Deutschen Reich – eine Bedingung des Versailler Vertrags – auf Halbmast. Heisenbergs erster banger Blick aber gilt der blühenden und duftenden Frühsommerpracht in den Vorgärten. Er selbst hofft inständig, in den nächsten Tagen vom Heuschnupfen verschont zu werden, der ihn in jedem Frühsommer zuverlässig heimsucht.
    Im überfüllten großen Hörsaal des Göttinger Physikalischen Instituts sind die meisten der führenden Physiker und Mathematiker Deutschlands versammelt. Bohrs Vortragsstil ist allerdings gewöhnungsbedürftig. Das leise Nuscheln ist sein Markenzeichen, und die Zuhörer, vor allem die in den hinteren Reihen, müssen sich arg konzentrieren, um seine leise Stimme hören zu können. So sitzt mancher Hinterbänkler mit angestrengter Miene auf seinem Platz und vergrößert seine Ohrmuscheln mit gewölbten Händen. Nicht selten sind die Zuhörer dabei schon Zeugen seines work in progress geworden. Sie haben gesehen und gehört, wie er, womöglich angeregt durch die Anwesenheit eines prominenten Gasts, spontan alternative Thesen im Augenblick des Sprechens entwarf.
    Wenn es in Göttingen einen Genius Loci gibt, dann ist es der strenge Geist der Mathematik. Nachdem Carl Friedrich Gauß, Bernhard Riemann und Hermann Minkowski hier neue Maßstäbe setzten, die Albert Einstein zu seiner allgemeinen Relativitätstheorie inspirierten, lehren auch jetzt weltberühmte Koryphäen wie Felix Klein und David Hilbert in Göttingen. Sie alle haben ihre Theoreme unmissverständlich bewiesen. Mathematische Wahrheiten sind über jeden Zweifel erhaben, während Bohrs permanente Suche und sein intuitives Heranpirschen an den Urgrund des Seins längst nicht die strengen Kriterien der hier versammelten Mathematiker erfüllen. Deshalb wählt Bohr seine Worte mit Bedacht. Strenge Beobachter erkennen zwar Bohrs Autorität an und sind von seinem Charisma beeindruckt, bemängeln aber die fehlende Eindeutigkeit und die irritierende Aura des Geheimnisvollen, die in der Naturwissenschaft nichts zu suchen habe. Für ihren Geschmack lässt Bohr seinem Publikum einen zu großen Spielraum für eigene Interpretationen. Aber gerade dieser Umstand versetzt den jungen Heisenberg in Hochstimmung. Er kann sich in Bohrs gedämpfte Stimmung einfühlen und seinen Schmerz beim Abschied von den Gewissheiten der klassischen Physik verstehen. Angesichts des Schwankens zwischen Anschaulichkeit und schwer vermittelbarer Abstraktion scheint ihm genau dieses Ungefähre und Zurückhaltende die einzig angemessene Darstellung der Quantentheorie zu sein: «… und fast hinter jedem der sorgfältig formulierten Sätze wurden lange Gedankenreihen sichtbar,

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