Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
sie das Urbild moralischer Reinheit und Selbstlosigkeit ist, ein edelmütiges Gegenbild zu den finsteren Verführern, die immer noch oder schon wieder an den Schalthebeln der Macht sitzen. Das Bündnis dieser vermeintlich sorglosen Frischluftenthusiasten reicht allerdings tiefer, als ihre Eltern dies womöglich ahnen. Die Mitglieder der Gemeinschaften sind nicht einfach nur Kameraden oder Freunde. Sie widmen sich gegenseitig nichts weniger als ihr ganzes Leben. Der Gruppenführer genießt Vertrauen und Loyalität der Jungen. Sie folgen ihm hingebungsvoll, während er sich großherzig zur lebenslangen Verantwortung für jeden Einzelnen von ihnen verpflichtet. Die Eltern bemäkeln die nachlässige Kleidung ihrer Söhne, doch die pfeifen auf tadellosen Zwirn. Innere Reinheit und Wahrhaftigkeit sind ihnen wichtiger als blendende Äußerlichkeiten. Allerdings tragen sie auch nicht die typische Pfadfinderkluft. Uniformen rufen schlimme Erinnerungen wach.
Den ganzen Winter muss der todkranke Robert Oppenheimer in der New Yorker Wohnung seiner Eltern das Bett hüten. Mit der schweren Kolitis im Anschluss an die Ruhrinfektion ist nicht zu spaßen. Im Sommer 1922 ist seine Genesung so weit fortgeschritten, dass sein Vater ihn zur Erholung und Abhärtung in die Wildnis von New Mexico schickt. In Begleitung seines verehrten Englischlehrers Herbert Smith verbringt er ein paar unvergessliche Wochen auf einer Pferderanch in der Nähe von Santa Fe. Oppenheimer gewöhnt sich an das Leben unter freiem Himmel in 2000 Metern Höhe und gewinnt allmählich Körperkraft und Selbstvertrauen zurück. Ein mehrtägiger Ausritt gerät schließlich zum Höhepunkt seines Aufenthalts in der dünnbesiedelten Landschaft des Südwestens. Sie durchqueren dunkle Kiefernwälder und Schluchten mit rotbraunen, von natürlichen Höhlen durchlöcherten Felswänden. Die Landschaft ist geprägt von weiten Ebenen, aus denen Tafelberge emporragen.
Nach einem Ritt durch eine weitere Schlucht gelangen sie schließlich an ein drei Kilometer langes, steil zerklüftetes Felsplateau aus Vulkangestein, auf dem ein großes Schulgebäude mit angeschlossener Pferderanch steht. Hier leben ein paar Dutzend Jungen im Alter von 12 bis 18 Jahren gemeinsam mit ihren Lehrern. In dieser Abgeschiedenheit sollen nach der Vorstellung des Schulgründers die in Großstädten geborenen Jungen ein gesundes Leben in freier Natur führen. Hier sind sie weit genug entfernt vom schädlichen Einfluss ihrer Mütter, die ihre Lieblinge nur verhätscheln. Auf sportliche Aktivitäten wird großer Wert gelegt. Alle gehören sie dem örtlichen Pfadfinderstamm an, schlafen bei jedem Wetter auf der Veranda und tragen das ganze Jahr über kurze Hosen. Wandern und Zelten im Hochgebirge stehen, gleichberechtigt mit Latein und Geometrie, auf dem Lehrplan. Jeder Junge hat hier sein eigenes Pferd, für das er selbst sorgen muss. Der von seiner schweren Krankheit genesende Oppenheimer ist beeindruckt von der strengen Disziplin und dem spartanischen Leben auf diesem abgelegenen Felsplateau. Dieser einzigartige Ort auf Lavagestein ist nach dem spanischen Wort für die Amerikanischen Pappeln benannt, die so malerisch den Bach in der Schlucht säumen, durch die Oppenheimer den Weg zu dieser Frischluftschule gefunden hat: Los Alamos.
Niels Bohr hat mit seinem Planetenmodell des Atoms erstaunliche Zusammenhänge erkannt. Die Elektronen, diese kleinsten Einheiten der elektrischen Kraft, diese Licht abstrahlenden Teilchen, haben zwar nur eine unbedeutende Masse in der Weite des Atoms. Doch ihre Konfigurationen, Sprünge und Wechselwirkungen untereinander sind verantwortlich für den Gestaltenreichtum der Welt, für die Verbindungsfreudigkeit von Wasserstoff und Sauerstoff, für die Farbe von Gold, für den Geruch von Schwefel, für das enorme Gewicht eines Klumpens Uran. Alle chemischen und physikalischen Eigenschaften der Elemente und Substanzen werden hier, auf den Bahnen im Bohr-Sommerfeld’schen Planetensystem, ständig neu gemischt. Niels Bohr ist mit seiner unvergleichlichen Intuition bis zu den Grundlagen der Chemie vorgedrungen. Er hat die Anordnungen der Elektronen analysiert, wobei ihm eine Neuinterpretation der Strukturen im Periodensystem der Elemente gelungen ist. Was ursprünglich also einmal als physikalische Theorie des Atoms gedacht war, erweist sich gleichzeitig als unverzichtbare Lehre für die elementare Ebene der chemischen Verbindungen.
Werner Heisenberg, Student am
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