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Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Titel: Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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stärker sein als Übung und Wille» [Hei 1 : 55   f.].
    Im Mai 1925 ist Heisenberg wieder bei Born in Göttingen und formuliert nun, unabhängig von den Kontrahenten in Dänemark, mit einem klassischen mathematischen Verfahren die nicht unmittelbar beobachtbaren Aufenthaltsorte und die Geschwindigkeiten der Elektronen wirklichkeitsnäher als zuvor. Die bisher als «Sprünge», «Bewegungen» und «Umlaufzeiten» bezeichneten Eigenschaften der Elektronen sind von nun an als Überlagerung atomarer Schwingungen definiert. Das heißt: Heisenbergs Aufmerksamkeit verschiebt sich. Er rüttelt nicht mehr an der ohnehin unzugänglichen inneren Struktur des Atoms. Stattdessen stellt er die tatsächlich beobachtbaren Spektrallinien und deren Intensitäten auf formal-mathematische Weise als Schwingungszustände dar. Jetzt muss er diese Idee allerdings noch vom Korsett der klassischen Physik befreien und in eine angemessene Quantenform überführen.
    Mit diesem Vorsatz vollzieht Werner Heisenberg eine radikale Abkehr von der klassischen Mechanik, wo sich alles um die Gleichungen für den Ort und für die Geschwindigkeit von Teilchen dreht. Bohr und Kramers halten zwar ebenfalls die Vorstellung überlagerter Schwingungszustände aufrecht, wollen sie aber unbedingt im klassischen Rahmen erhalten. Sollte Heisenberg mit einer erneuten «Unverschämtheit» vielleicht auch in der Quantentheorie einen solch unmöglichen Treffer landen wie gegen den realen Telegraphenmasten auf der Wanderung mit Niels Bohr?
    Gegen Ende Mai 1925 aber steckt er fest im «undurchdringlichen Dickicht» komplizierter mathematischer Formeln. Ausgerechnet in dieser festgefahrenen Situation erwischt ihn ein heftiger Heuschnupfenanfall. Und so fährt er am 7. Juni auf die Insel Helgoland, den spärlich begrünten roten Felsen in der Nordsee, um sein Heufieber auszukurieren. Sein Gesicht ist so stark angeschwollen, dass die Pensionswirtin vermutet, ihr junger Gast könne sich am Abend zuvor noch mit Zechkumpanen geprügelt haben. Die Nächte sind kurz. An Schlaf ist angesichts der Aufgabe, die Heisenberg sich gestellt hat, wohl auch kaum zu denken. Wenn er sich vom Rechnen und vom Entwurf neuer Quantenbedingungen entspannen will, umrundet er die überschaubare Insel, klettert in den Buntsandsteinfelsen der Steilküste herum, schwimmt im Meer oder lernt Gedichte aus Goethes Westöstlichem Diwan auswendig. Ungestört von den unaufhörlichen Diskussionen im Göttinger Universitätsbetrieb, kommt er allmählich zur Ruhe. Es gelingt ihm, «unnötigen mathematischen Ballast abzuwerfen».
    Da er nur noch mit beobachtbaren Größen rechnen will, hat er die sinnlose Verfolgung von Aufenthaltsorten und Geschwindigkeiten der Elektronen aufgegeben. Sie sind jetzt in überlagerte Schwingungsmuster übersetzt und stellen den Übergang von einem atomaren Zustand in einen anderen dar. Aus klassischer Sicht werden die Auslenkungen dieser Schwingungen – die Amplituden – miteinander multipliziert. Hier, auf Helgoland, gelingt Heisenberg eines Nachts schließlich die Ableitung einer entsprechenden Multiplikationsregel für Quantensysteme. Sie sorgt dafür, dass aus einem klassisch-mechanischen System ein quantenmechanisches System entsteht. Endlich scheint er das lang gesuchte mathematische Werkzeug gefunden zu haben, das es ihm erlaubt, die Energieumsätze in einem Atom widerspruchsfrei zu bestimmen. Bei den ersten hastigen Kontrollrechnungen dieser Nacht bestätigt sich sogar der Energieerhaltungssatz, was Bohrs letzter Theorie nicht vergönnt gewesen ist.
    Jetzt hat Heisenberg keinen Zweifel mehr an der Geschlossenheit seiner neuen Quantenmechanik: «Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindlig bei dem Gedanken, dass ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte. Ich war so erregt, dass ich an Schlaf nicht denken konnte» [Hei 2 :78]. Und so verlässt er seine Pension in der Morgendämmerung, läuft zur Nordspitze der Insel und klettert auf die «Lange Anna», das Wahrzeichen Helgolands – ein 47 Meter hoher roter Felssolitär, der senkrecht aus dem Meer emporragt.

Kapitel 4
    NEUTRON
    In der künftigen Quantenmechanik sollen ausschließlich «Beziehungen zwischen prinzipiell beobachtbaren

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