Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
das «Wunderkind» sich künftig nicht zurückhalte. Born bringt es nicht fertig, seinen Lieblingsschüler offen zu maßregeln. Und so bittet er ihn zu einem Gespräch über seine Dissertation ins Büro, lässt die Petition der Studenten in Sichtweite liegen und verlässt unter einem Vorwand das Zimmer. Als er zurückkommt, findet er einen blassen, einsilbigen Oppenheimer vor, der von da an nie wieder stört.
So eloquent und weitschweifig Oppenheimer auch sein kann, wenn es um Literatur, Philosophie oder seine private Gemäldesammlung geht, so knapp und bündig verfasst er seine fachlichen Arbeiten. Am Ende seines neunmonatigen Aufenthalts in Göttingen wird er sieben Aufsätze veröffentlicht haben. Für einen gemeinsamen Artikel mit Born liefert Oppenheimer gerade mal fünf Seiten ab, was für den Geschmack des Co-Autors dann doch eine Spur zu karg ist. Darin geht es um die Anwendung der Quantenmechanik auf Moleküle – eine Inspiration, die auf Heisenbergs Bemerkung zurückgeht. Der als Erstautor genannte Max Born ergänzt die später als «Born-Oppenheimer-Näherung» bekannt gewordene Abhandlung um eigene Anmerkungen und Theoreme, sodass dreißig Seiten daraus werden. Was Oppenheimer insgeheim für überflüssiges dekoratives Beiwerk seines Konzentrats hält. Zur Ausarbeitung seiner Dissertation über den photoelektrischen Effekt im Wasserstoff und in Röntgenstrahlen soll er gerade einmal drei Wochen gebraucht haben. Am 11. Mai 1927 steht das Rigorosum an, das er mit hervorragender Note besteht. Einer der Prüfer ist der frisch gekürte Nobelpreisträger James Franck, der trocken bemerkt: «Ich bin rechtzeitig herausgekommen. Er fing gerade an, mir Fragen zu stellen» [Bir:78].
Gegen Ende des Jahres 1927 richtet sich Werner Heisenberg eine bescheidene Dienstwohnung im Institut für theoretische Physik der Universität Leipzig ein. Die Adresse ist Linnéstraße 5, «auf halbem Weg zwischen Friedhof und Psychiatrie» [Cas:322]. Endlich hat er eine Professur angenommen, nachdem zuletzt die Columbia University in New York und die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich um ihn geworben hatten. Aber in Deutschland arbeiten zu können, hat für ihn Priorität. Als erste «Amtshandlung» stellt er Fenster und Türen des muffigen Instituts auf Durchzug, kauft Bettwäsche und lässt sein künftiges Domizil gründlich renovieren. Ein Klavier und eine Tischtennisplatte fehlen ihm noch zu seinem Glück, doch beides lässt sich organisieren.
Ein turbulentes Jahr liegt hinter ihm. Auf zwei wichtigen Physikerkongressen im italienischen Como und in Brüssel hat sich die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik durchgesetzt. Sie beruht auf Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation und Bohrs «Komplementaritätsprinzip». Bohr behauptet, dass bei jedem atomaren Experiment sowohl die Vorstellung vom Teilchencharakter als auch das Wellenkonzept vom Elektron gleichzeitig auftreten. Beim Messvorgang entscheide sich der Experimentator dann entweder für die Welle oder für das Teilchen. Dabei rufe «die notwendige Entscheidung des Experimentators für die eine oder die andere Vorstellung eine Störung hervor, die dann zu den Unschärferelationen führe» [Cas:302]. Und die stellen sich zwischen den beiden Messwertpaaren Ort und Geschwindigkeit sowie Energie und Zeit ein. Das unbeobachtete Elektron an sich sei demnach unbestimmt.
Aber die beunruhigenden Konsequenzen dieser Unbestimmtheit mechanischer Größen in der atomaren Welt reichen tiefer. Damit gerät nämlich das geheiligte Prinzip von Ursache und Wirkung ernsthaft ins Wanken, das als Voraussetzung wissenschaftlichen Denkens gilt. Damit sei «das Kausalitätsgesetz in gewisser Weise gegenstandslos» [Hei 3 :21] geworden, folgert Heisenberg. Ließ sich bisher aus der Kenntnis der Gegenwart die Zukunft berechnen – wie etwa die nächste Sonnenfinsternis aus den Bahnen von Erde und Mond um die Sonne –, scheitert das Kausalgesetz jetzt an der Genauigkeitsgrenze in der Quantenmechanik. Denn kennt man die Anfangsbedingungen nicht hinreichend genau, lassen sich auch die künftigen Prozesse eines atomaren Systems nicht mehr vorhersagen.
Der beobachtende Physiker greift selbst unabwendbar ins atomare Geschehen ein und verändert es durch seine Messung. Diese revolutionäre Vorstellung von der aktiven Rolle des Beobachters und der grundsätzlichen Unmöglichkeit einer vollständigen Messung stellt jede bisherige Philosophie der Physik auf den Kopf. Damit sind natürlich
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