Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Fähigkeiten Heisenbergs. Erstarrt muss er mit ansehen, wie der Alpinist, «ohne ein Wort zu verlieren, vorsichtig zur Spitze der Pagode hinaufkletterte und in triumphierender Missachtung der Gefahr, sich zu verletzen oder gar zu Tode zu stürzen, auf der höchsten Spitze des Gebäudes auf einem Fuß balancierte, während ein scharfer Wind heftig über ihn hinwegfegte» [Cas:330]. Seit seiner Rückkehr nach Leipzig ist Heisenberg nun auch im Tischtennis unschlagbar.
Während in den 1920er Jahren eine wegweisende quantenmechanische Entdeckung der anderen folgt und die vermeintlichen Gegensätze von Welle und Teilchen unter Bohrs Regie zu einer gewöhnungsbedürftigen Einheit verschmelzen, herrscht in den Labors der experimentellen Kernphysiker eine deprimierende Dauerflaute. Ernest Rutherford, Entdecker des Atomkerns und seit dieser Glanztat unermüdlicher Erforscher der atomaren Leere, bringt im Sommer 1920 eine neue Spekulation über den Atomaufbau ins Spiel. Wenige Monate zuvor ist ihm die erste Elementumwandlung der Wissenschaftsgeschichte gelungen. Durch gezielte Angriffe auf den Atomkern hat er Stickstoff in Sauerstoff umgewandelt und dabei das Proton als universellen Kernbaustein entdeckt. Jetzt will er die elektrisch positiv geladenen Protonen und die negativ geladenen Elektronen, die sich gegenseitig anziehen, nicht mehr als die einzigen Bausteine betrachten, sondern vermutet noch die Existenz eines dritten Teilchens, das keine elektrische Ladung habe und sich deshalb freier durch die Materie hindurchbewegen könne.
Mit seiner Hilfe will Rutherford die offensichtlichen Abweichungen der Zahl massetragender Protonen im Atomkern vom Atomgewicht erklären. So hat zum Beispiel Eisen 26 Protonen, aber das Atomgewicht 55. Wie lassen sich die fehlenden 29 Teilchenmassen erklären? Das schwerste Element Uran enthält 92 Protonen bei einem Atomgewicht von 235. Und so fehlt bei jedem der bekannten Elemente ein gewisser Massebetrag. Für die Differenz 29 beim Eisen und 143 bei Uran ließen sich nun diese hypothetischen Teilchen verantwortlich machen, schlägt Rutherford vor. Vorausgesetzt, deren Masse stimme mit der des Protons überein. Wegen der elektrischen Neutralität dieses ominösen Teilchens würden zusätzliche 29 dieser neutralen Teilchen im Eisenatomkern die elektrische Stabilität zwischen 26 positiv geladenen Protonen und 26 negativ geladenen Elektronen überhaupt nicht stören, aber das Atomgewicht von 55 befriedigend erklären.
Rutherford hat seinen stellvertretenden Laborleiter James Chadwick auf die Fährte des neutralen Teilchens gesetzt. Dessen Versuche, dieses flüchtige Wesen im Cavendish-Labor von Cambridge einzufangen, sind allerdings bisher fehlgeschlagen. Hauptsächlich jedoch bemühen sich der Direktor und sein Vize – angefeuert durch den Erfolg der Umwandlung von Stickstoff in Sauerstoff –, weitere Elemente durch Beschuss mit Alphateilchen umzuwandeln. Beim Beryllium, einem seltenen Leichtmetall, glauben sie, kurz vor einem Durchbruch zu stehen. Deshalb nimmt Chadwick im Winter 1925 auch einmal die Hilfe eines Assistenten von J. J. Thomson in Anspruch, der auf demselben Campus forscht. Robert Oppenheimer streicht in Thomsons Labor das Beryllium in hauchdünnen Schichten auf einen klebrigen Film, der anschließend wieder sorgfältig entfernt werden muss. Es ist ein offenes Geheimnis im Labor, dass dem Gast aus den USA experimentelle Arbeit nicht behagt, und dieser ausgesprochen penible Job hier schon gar nicht. Oppenheimers Stärke liegt eindeutig im theoretischen Bereich. Aber Chadwick ist bei seinen Versuchen auf die Berylliumpräparate angeweisen. Und so muss Oppenheimer für Rutherfords rechte Hand Sonderschichten schieben [Smi:88].
Chadwicks Schüchternheit ist legendär. Eigentlich wollte er an der Universität Manchester Mathematik studieren. Bei den Zulassungsgesprächen gerät er wegen eines bürokratischen Irrtums an den falschen Dozenten. Als Chadwick feststellt, dass der ihn über Physik befragt, wagt er es nicht, ihn zu unterbrechen, beantwortet brav die Fragen und unterschreibt schließlich klaglos die Anmeldung für einen Physikkurs. So lernt der stille Physikstudent wider Willen den Poltergeist Ernest Rutherford kennen. Nach dem Examen geht er nach Berlin zu Hans Geiger in die Physikalische Reichsanstalt und bringt erwartungsgemäß kein Wort heraus, als der ihm Lise Meitner, Otto Hahn und Albert Einstein vorstellt. Als der Weltkrieg ausbricht, versäumt
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