Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Göttingen. Während seines Chemiestudiums in Harvard hat er seine Liebe zur Physik entdeckt und die Teilnahme an fortgeschrittenen Physikseminaren beantragt, ohne auch nur einen einzigen Grundkurs vorweisen zu können. Um sein Fachwissen zu demonstrieren, reicht er eine Liste mit 15 Büchern ein, die er angeblich studiert hat. Die Reaktion eines Professors ist überliefert: «Wenn er [Oppenheimer] sagt, er hat all diese Bücher gelesen, lügt er, aber er sollte einen Doktor dafür kriegen, dass er die Buchtitel kennt» [Bir:46].
Nach drei Jahren Harvard in Cambridge, Massachusetts, und mit einem Abschluss summa cum laude bewirbt sich Robert Oppenheimer um einen Studienplatz bei Ernest Rutherford im englischen Cambridge. Die Zeugnisse weisen ihn zwar als brillanten Theoretiker aus. Doch für den Praktiker Rutherford ist eher das experimentelle Geschick eines Assistenten ausschlaggebend. Deshalb reicht er Oppenheimers Bewerbung an J. J. Thomson weiter, der ihn schließlich akzeptiert. Das Jahr in England nimmt einen unheilvollen Verlauf. Untergebracht sei er in einem «Kellerloch», klagt er. In Thomsons Labor stellt er sich ungeschickt an. Kokett sagt er über sich selbst, er sei «unfähig …, zwei Kupferdrähte zusammenzulöten» [Bir:60]. Zu diesem Gefühl der Unzulänglichkeit gesellt sich bald eine emotionale Krise, die sich zu einer schweren Depression auswächst. Eine ohnehin nicht ganz ernstgemeinte «Verlobung» unter Aufsicht der herbeigerauschten Mutter Ella scheitert kläglich.
Offenbar verehrt Oppenheimer seinen Physiktutor in Cambridge, den späteren Nobelpreisträger Patrick Blackett, und ist eifrig bemüht, ihm zu gefallen. Blackett sieht blendend aus und ist ein ausgezeichneter Experimentator – ein Mensch, dem alles zu gelingen scheint. Doch ausgerechnet der brummt ihm zusätzliche Stunden der verhassten Laborarbeit auf, was Oppenheimer zur Weißglut bringt. Im Herbst 1925 legt er – so will es die Legende – einen mit Laborchemikalien vergifteten Apfel auf Blacketts Schreibtisch [Bir:57]. Sein Tutor entdeckt das corpus delicti und meldet den Vorfall der Universitätsbehörde. Vater Julius setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um seinen Sohn vor einem Verweis von der Universtät zu bewahren. Schließlich setzt man Robert eine Bewährungsfrist, in der er regelmäßige Therapiesitzungen nachweisen muss. Ein prominenter Psychiater in London stellt eine Spielart der Schizophrenie fest und stuft ihn als hoffnungslosen Fall ein. Sein bester Freund Francis Fergusson sieht Robert eher in der Zwickmühle des unfreiwilligen Patienten, der selbst klüger ist oder klüger zu sein glaubt als der Analytiker und ihm deshalb tiefere Einblicke in seine Persönlichkeitsstruktur verweigert. Und so lässt er die Sitzungen ohne persönlichen Gewinn stoisch über sich ergehen – eine weitere Quelle der Frustration. Um ihren Sohn aus seiner düsteren Stimmung zu befreien, fahren die Eltern in den Weihnachtsferien mit ihm nach Paris. Dort sperrt der Filius seine Mutter im Hotelzimmer ein und macht sich aus dem Staub, worauf die ihn zum nächsten erreichbaren Psychoanalytiker schickt. Der diagnostiziert, weniger pompös als sein britischer Kollege, eine alterstypische crise morale in Verbindung mit sexueller Frustration und verschreibt ihm nüchtern und französisch: une femme [Bir:59].
Der «vergiftete Apfel» ließe sich auch als Metapher für einen fehlerhaften, bewusst schludrigen oder nicht vollendeten Laborbericht Oppenheimers interpretieren [Smi:93], den er seinem Tutor aus Wut über die ungeliebte praktische Arbeit auf den Tisch geknallt hat – ein ungenießbares «Geschenk», das ihm im Hals stecken bleiben soll. Sein Freund Francis Fergusson will in dieser Hinsicht allerdings nichts von Metaphern wissen und ist überzeugt, dass Oppenheimer tatsächlich einen Apfel mit Gift präpariert habe.
Oppenheimer muss sich wohl damit abfinden, ein lausiger Experimentalphysiker zu sein. Die hohen Ansprüche an sich selbst sollte er herunterschrauben, um nicht unglücklich zu werden. Umso leidenschaftlicher stürzt er sich jetzt auf die neue Göttinger Quantenmechanik. Oppenheimer fühlt sich von der Aufbruchstimmung unter den Quantenphysikern angezogen. Hier scheint das Verhältnis zwischen Professoren und Studenten ungezwungener zu sein als in anderen Wissenschaftszweigen. Junge und begabte Neulinge können sich über Nacht einen Namen machen. Wolfgang Pauli nennt die Quantenmechanik «Knabenphysik», weil viele
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