Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
längst nicht alle Forscher einverstanden. Die Gegner der Kopenhagener Deutung beharren auf einer Physik, die das Ergebnis von Experimenten vorhersagen kann – unabhängig vom ausführenden Wissenschaftler. Daher kommt es auf dem sechstägigen Solvay-Kongress in Brüssel im Oktober 1927 zu einem Diskussionsmarathon zwischen den Kopenhagenern und Albert Einstein. Auf den Korridoren des Hotels, in dem alle Kongressteilnehmer untergebracht sind, kursieren die unterschiedlichsten Versionen von Einsteins Mantra: «Gott würfelt nicht». Er will einfach nicht akzeptieren, dass es auf der Ebene des Atoms nur noch Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten zu erforschen gibt. Bereits zum Frühstück serviert er Bohr und Heisenberg ein Gedankenexperiment, das die Unbestimmtheitsrelationen unmissverständlich ad absurdum führen soll. Im Lauf des Tages werden seine Einwände analysiert, und schon beim gemeinsamen Abendessen kann Bohr Einsteins Argumente entkräften. Heisenberg erzählt: «Einstein war dann etwas beunruhigt, aber schon am nächsten Morgen hatte er beim Frühstück ein neues Gedankenexperiment bereit, komplizierter als das Vorhergehende, das die Ungültigkeit der Unbestimmtheitsrelationen nun aber wirklich demonstrieren sollte. Diesem Versuch ging es freilich am Abend nicht besser als dem ersten» [Hei 2 :99].
Professor Werner Heisenberg am Institut für Physik der Universität Leipzig genießt inzwischen Weltruhm. Seine Unbestimmtheitsrelation hat sich in der Physikergemeinde als Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik durchgesetzt, während die meisten Kollegen Bohrs vertracktes Komplementaritätsprinzip lieber in Philosophieseminaren behandelt wissen möchten [Cas:329]. In Heisenbergs Kursen und Vorlesungen drängen sich die Studenten. An seinem Institut ist er im Schachspiel unschlagbar. Obendrein soll er ein exzellenter Tischtennisspieler sein. Trotzdem verliert er das eine oder andere Match, was ihn natürlich wurmt. Denn auch an der grünen Platte will er der Beste sein. Im März 1929 geht er acht Monate lang auf Weltreise, um Vorträge in den USA, Japan und Indien zu halten. Dafür muss er erstmals auf die gemeinsamen Ferien mit seinen Pfadfindern in den bayrischen Alpen verzichten. Trotz des straffen Vortragsprogramms, das ihn von Chicago nach Kalifornien und wieder zurück führt, bleibt ihm Zeit zum Schwimmen, Segeln und Tischtennis. Höhepunkt seiner sportlichen Aktivitäten wird allerdings eine Kletterpartie in den Rocky Mountains, von der er noch lange in höchsten Tönen schwärmt.
Mitte August trifft er sich mit Paul Dirac in San Francisco, um mit ihm das Schiff nach Yokohama zu nehmen. Der englische Physiker gilt als einsilbig und verschlossen, selbst Kollegen gegenüber. Wer nichts von Physik versteht, hat keine Chance, ihn kennenzulernen. Nur mit Kindern unter zehn Jahren kommt er leicht ins Gespräch. Im Wintersemester 1926/1927 wohnt er in Göttingen mit Robert Oppenheimer in derselben Villa. Dessen Schwärmerei für Dante und Dostojewski ist ihm nicht geheuer. Doch als er sieht, dass Oppenheimer selbst recht anspruchsvolle Gedichte schreibt, bringt ihn das aus der Fassung. Er begreift nicht, wie man Physik studieren und sich gleichzeitig auf dem dünnen Eis der Poesie bewegen kann, und raunzt Oppenheimer an: «In der Physik versuchen wir, den Leuten etwas, das vorher noch niemand wusste, so zu vermitteln, dass sie es verstehen. In der Dichtung ist es doch genau umgekehrt» [Bir:73]. Als Oppenheimer seinem Hausgenossen später einmal einige Bücher empfiehlt, lehnt der höflich, aber bestimmt ab. Das Bücherlesen verwässere sein Denken.
In Japan sollen Heisenberg und Dirac gemeinsam die Nachwuchsphysiker auf den neuesten Stand der Quantenmechanik bringen. Während der Überfahrt nach Yokohama, so berichtet Dirac später, habe sein bewegungsfanatischer Begleiter ständig Tische an Kabinenwände geschoben, um mit seinem Tischtennisschläger zu trainieren, und sich abends auch noch ins Tanzvergnügen an Deck gestürzt – ein Zeitvertreib, den der notorische Eigenbrötler und Stillsitzer Dirac nicht nachvollziehen kann und den Kollegen deshalb nach seinen Motiven fragt. Das Tanzen mache einen Heidenspaß, wenn nette Mädchen dabei seien, antwortet Heisenberg. Nach kurzem Schweigen fragt Dirac: «Wie können Sie denn im Voraus wissen, dass die Mädchen nett sind?» [Far]. Als sie in Japan schließlich einmal an einer eindrucksvollen Pagode vorbeikommen, wird Paul Dirac Zeuge der akrobatischen
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