Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
orientieren sich die Kernphysiker an der Faustregel, ein langsames und daher energieschwaches Neutron könne nicht mehr als ein einziges Teilchen aus dem Kern herausschlagen. Aber die Autoren haben die Anwesenheit aller anderen chemischen Elemente außer Radium und der Trägersubstanz Barium ausschließen können. Demnach komme nur Radium in Frage. Ihr Artikel erscheint am 8. November 1938, einen Tag nach Meitners 60. Geburtstag im Exil, in der Zeitschrift «Die Naturwissenschaften».
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 zersplittern in ganz Deutschland die Fensterscheiben jüdischer Wohnungen und Geschäfte. Die Juden werden gejagt und misshandelt, ihr Eigentum wird zerstört und geplündert. Einige hundert Menschen werden ermordet oder in den Selbstmord getrieben. Mehr als tausend Synagogen und Versammlungsräume gehen in Flammen auf. Es sind vom Regime inszenierte Übergriffe – der Auftakt zur systematischen Vernichtung des jüdischen Volkes. In Meitners Berliner Personalakten wird nun der zusätzliche Vorname «Sarah» eingefügt.
Ein Besucher, der in diesen Herbsttagen zum ersten Mal das Foyer der Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie an der Thielallee in Berlin-Dahlem betritt, um Hahn oder Straßmann zu sprechen, lässt sich am besten von seiner Nase leiten. Ein eigenartig scharfer Geruch liegt in der Luft, der umso intensiver wird, je näher man Hahns großem Chemielabor im Erdgeschoss kommt. Für die Basisnote des Institutsdufts sind offenbar die Salze der Salpetersäure verantwortlich. 25 Jahre lang sind die Ausdünstungen in alle Tische und Stühle, Regale und Ritzen gedrungen. Bestrahlungsraum und Messzimmer liegen – ähnlich wie bei Enrico Fermi in Rom – an entgegengesetzten Enden des Flurs, um Messfehler zwischen Neutronenquelle und bestrahltem Uran auszuschließen. Wenn Fritz Straßmann für seine Verfahren zur Trennung radioaktiver Substanzen mit hochkonzentrierter Salzsäure und mit giftigem Bariumchlorid hantiert, tritt die ätzende Kopfnote des Institutsdufts hervor – ein kurzer heftiger Nasenkitzel und ein deutlich bitterer Geschmack auf Zunge und Gaumen, der Giftgasprofi Hahn nicht weiter stört. Die Herznote des Dufts entfaltet sich jedoch erst, wenn der Herr Direktor sich bei der Arbeit eine Zigarre genehmigt und die würzigen Tabakschwaden die Säuren etwas in den Hintergrund drängen.
Auf den dringenden Rat von Niels Bohr und Lise Meitner wiederholen Hahn und Straßmann jetzt noch einmal ihren Versuch, bei der Bestrahlung von Uran künstliche Radiumatomsorten zu gewinnen. In fiebriger Geschäftigkeit bombardieren sie wieder ihre Uranproben, überwachen die Geigerzähler, lösen sich spät abends noch ab und legen Nachtschichten ein. Vor allem aber vertrauen sie auf die Trennkraft ihrer «schönen kleinen Bariumchloridkristalle», die sie in jahrelanger mühsamer Arbeit von allen Unreinheiten befreit haben. Die sollen jetzt noch einmal die drei Radiumsorten sauber aus dem bestrahlten Uran herauslösen, ohne Spuren anderer Zerfallsprodukte mitzuschleppen. Denn Barium funktioniert als Trennmittel für alle Erdalkalimetalle wie zum Beispiel Beryllium, Magnesium und Radium. Auch Barium selbst gehört zu dieser Familie. Die chemische Verwandtschaft zwischen der Trennsubstanz Barium und dem herauszuziehenden radioaktiven Stoff sorgt dafür, dass sich so ein strahlendes Familienmitglied in den Kristallzwischenräumen des Bariumchlorids festsetzt und aus der Lösung herausgeschwemmt wird. Selbst wenn bei der Umwandlung nur eine solch unwägbare Menge wie ein paar tausend Atome – wenige trillionstel Gramm – herausgesprungen sein sollten. Hahn und Straßmann wollen den skeptischen Physikern in Kopenhagen, Stockholm und sonstwo beweisen, dass sie, die Radiochemiker in Dahlem, mit ihrem Befund der Kernphysik womöglich eine neue Perspektive eröffnet haben.
Auf dem grob gezimmerten Holztisch im Bestrahlungszimmer liegt ein schmutziggelber Rundling, ein Paraffinblock, in dessen Mitte ein Loch gebohrt worden ist. Darin steckt eine Ampulle mit Radiumsalzen und Berylliumpulver – die Berliner Neutronenquelle. Enrico Fermis Zufallsfund, dass Paraffin die Berylliumneutronen bremst und dadurch die Wahrscheinlichkeit ihres Eindringens in den Urankern erhöht, hat sich inzwischen als unentbehrlicher Bestandteil des Standardverfahrens zur Gewinnung transuranischer Elemente erwiesen. In der Messkammer wird die Radioaktivität der bestrahlten Proben festgestellt. Hier haben Lise Meitners
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