Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
wünscht «baldige Äußerung zur Sache». Als am 15. März 1938 Hunderttausende Wiener Bürger begeistert ihrem neuen Führer Adolf Hitler zujubeln, wird auch Lise Meitner in Berlin über Nacht zu einem Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns. Nach dieser simplen Blutarithmetik droht ihr früher oder später die Entlassung.
Der von Meitner wie ein Vater verehrte Max Planck will seit seinem faulen Kompromiss mit Hitler im Mai 1933 nicht mehr als Fürsprecher jüdischer Wissenschaftler unangenehm auffallen. Otto Hahn wiederum setzt alle Hebel in Bewegung, um ihre Entlassung zu verhindern. Doch bei einem offiziellen Gespräch verliert der als politisch unzuverlässig geltende Institutsleiter die Nerven und hält schließlich den Vorschlag für vernünftig, Lise Meitner den Rücktritt nahezulegen, damit sie anschließend inoffiziell und ungehindert in Deutschland weiterarbeiten kann. Aus Zürich und von Niels Bohr treffen verschlüsselt formulierte Angebote ein. James Franck in Chicago will für sie eine Bürgschaftserklärung abgeben, damit sie in die USA einwandern kann. Aber Lise Meitner will Berlin nicht verlassen, wo sie 30 Jahre lang erfolgreich gearbeitet hatte. Da ihr österreichischer Pass jetzt ungültig ist und man ihr einen deutschen Pass nicht ausstellen will, kann sie nicht ohne weiteres in ein anderes Land reisen. Außerdem gibt es Gerüchte über neue gesetzliche Ausreisebeschränkungen für Akademiker.
Vom sonst so standhaften Hahn ist sie enttäuscht. Offenbar fürchtet er wegen der «Affäre Meitner» nun um seinen eigenen Arbeitsplatz. Schockiert zeigt sie sich über die Anfeindungen der Parteimitglieder an ihrem Institut und über den vorauseilenden Gehorsam missgünstiger Kollegen, die sie nun ungeniert denunzieren. Sie hat verstanden und stellt einen Ausreiseantrag ins neutrale Ausland. Der Minister lehnt ihn allerdings mit der Begründung ab, sie könnte als berühmte Jüdin im Ausland Propaganda gegen Deutschland machen. Hinter der Anordnung steht kein Geringerer als Polizeichef Heinrich Himmler.
1936 ist Carl Friedrich von Weizsäcker Meitners «Haustheoretiker» gewesen. Als ihr Assistent hat er die Experimente begleitet und sich bemüht, die komplexen Reaktionen und die undurchsichtigen verwandtschaftlichen Verhältnisse zwischen den neuen Strahlungskörpern in eine kühne Theorie des Atomkerns einzubinden – letztlich erfolglos. Auch nach seinem Abschied bleiben die beiden in Kontakt. Sein Vater Ernst von Weizsäcker ist seit dem 1. April 1938 Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Meitner bittet nun den Sohn, Näheres über ihren Antrag auf einen deutschen Pass in Erfahrung zu bringen. Doch das Außenministerium nimmt die gleiche Position ein wie Himmlers Behörde. Ernst von Weizsäcker instruiert gerade alle deutschen Botschaften, jüdischen Emigranten den Transfer ihres Geldes ins Ausland zu verwehren.
Der niederländische Physiker Dirk Coster, Bohr-Schüler und Mitentdecker des Elements Hafnium, organisiert jetzt Meitners Flucht mit der Eisenbahn. Er hat seiner Regierung die Zusage abgerungen, dass die Beamten an der Grenzstation sie ohne Visum einreisen lassen. Mit 10 Mark in der Tasche, ein paar Sommerkleidern im Gepäck und einem Brillantring am Finger, den ihr Otto Hahn zum Abschied geschenkt hat, verlässt die 59-Jährige am 13. Juli Deutschland in Begleitung Costers und reist nach Groningen. Bis zum letzten Moment muss sie fürchten, bei einer Ausweiskontrolle der SS festgenommen zu werden. Doch die Flucht gelingt ohne Zwischenfälle. Von Groningen aus will sie zu Niels Bohr nach Kopenhagen, der ihr bereits einen Posten im ersten schwedischen Institut für Kernforschung in Lund beschafft hat.
Als sie aus Deutschland flieht, sind die physikalischen Vorgänge des komplizierten Uranzerfalls noch immer nicht geklärt. Irène Joliot-Curie und ihr Team in Paris sind unmittelbare Rivalen der Berliner und lehnen die theoretischen Modelle von Meitner und Weizsäcker ab. Über den sogenannten 3,5-Stunden-Körper, ein Zerfallsprodukt, das die Franzosen entdeckt zu haben glauben, ist ein Streit zwischen beiden Gruppen entbrannt. Sollten die Berliner das kurzlebige Strahlungsprodukt mit ihren raffinierten Verfahren tatsächlich übersehen haben? Sie halten es eher für ein Phantom. In Anspielung auf den berühmten Mädchennamen der Pariser Institutsleiterin nennen die Deutschen die umstrittene Atomart hinter vorgehaltener Hand «Curiosum».
Im Januar 1938 haben Hahn und
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