Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Titel: Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
Vom Netzwerk:
sitzt Leo Szilard in seinem Zimmer im New Yorker Hotel King’s Crown und schreibt einen Brief an die Britische Admiralität. Drei Jahre zuvor hat er der Marine sein Patent für nukleare Kettenreaktionen in der Absicht überschrieben, es vor dem Zugriff der Deutschen zu schützen. Seitdem hat der freischaffende Physiker seine ganze Kraft darauf verwendet, seine Vision von der Befreiung der Atomenergie in die Tat umzusetzen. Zunächst hat er Beryllium mit Neutronen traktiert. Danach ist Indium das Element seiner Wahl gewesen. Der Erfolg blieb aus. Für weitere Experimente fehlt ihm jetzt das Geld. Wohlhabende Geschäftsleute scheinen sich keinen Profit von Szilards Plänen zur Produktion preiswerter Energie zu versprechen. Sie sind irritiert, dass er nicht mit seinem Hintergrundwissen herausrücken will, und werfen ihm Geheimniskrämerei vor.
    Getrieben von der Angst, dem deutschen Diktator könne die militärische Brisanz der Atomenergie eingeflüstert werden, besteht Szilard auch bei Gesprächen über die kommerziellen Perspektiven hartnäckig auf unbedingter Geheimhaltung. Und wenn ein interessierter, fachfremder Sponsor dann doch Erkundigungen einholt und Szilards Kollegen befragt, verweisen die achselzuckend auf Ernest Rutherfords geringschätziges «Moonshine»-Urteil oder zitieren genüsslich Albert Einsteins Bonmot über den Nutzen der Bombardierung von Atomkernen mit Neutronen: «Das ist wie nachts auf Vögel zu schießen, noch dazu in einer Gegend, in der es nicht sehr viele Vögel gibt.» Finanziell am Ende und enttäuscht von seinen fehlgeschlagenen Experimenten, gibt Leo Szilard drei Tage vor Weihnachten auf. Die Britische Admiralität bittet er, sein Patent für eine nukleare Kettenreaktion aufzuheben, da eine weitere Geheimhaltung sinnlos sei [Lan:175].
    Am selben Tag trifft Otto Hahns Luftpostbrief mit der sensationellen Nachricht in Stockholm ein. Und Lise Meitner antwortet noch am Abend des 21. Dezember: «Eure Radiumresultate sind verblüffend. Ein Prozess, der mit langsamen Neutronen geht und zum Barium führen soll! … Mir scheint vorläufig die Annahme eines so weitgehenden Zerplatzens sehr schwierig, aber wir haben in der Kernphysik so viele Überraschungen erlebt, dass man nicht ohne weiteres sagen kann: Es ist unmöglich» [Hah 4 :79]. Das ist zwar noch nicht der offizielle Ritterschlag durch die Physikerin. Doch Meitner scheint sich spontan mit der physikalischen Interpretation ihrer Chemiker-Kollegen angefreundet zu haben. Das ist erstaunlich, denn viel Zeit zum Nachdenken hat sie nicht gehabt. Sie schreibt ja ihren Kommentar noch am selben Abend. Wird sie sich in diesen aufregenden Stunden an Ida Noddack erinnert haben, die ein solches Zerplatzen des Kerns in «größere Bruchstücke» angesichts der Experimente Fermis bereits vor vier Jahren vorgeschlagen hatte?
    Es ist kein Geheimnis, dass man sich in Dahlem häufig herablassend über die Kontrahentin auf der Liste der Nobelpreiskandidaten geäußert hat: «Hahn erklärte ziemlich unwirsch, er habe Frau Noddacks absurde Hypothese vom Zerplatzen des Uranatoms nicht einmal zu zitieren gewagt, weil er sonst um seinen Ruf als Wissenschaftler hätte fürchten müssen» [Hof 2 :50]. Das Dahlemer Trio mag Frau Noddack nicht. Und das beruht auf Gegenseitigkeit. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass weder Hahn noch Meitner nicht an sie denken mussten, als sie in ihren Briefen das entscheidende Wort vom «Zerplatzen» des Kerns niedergeschrieben haben. Meitners flexible Reaktion auf Hahns Vorschlag zeigt aber auch, wie groß das gegenseitige Vertrauen noch ist. Jetzt stellt sie die Dahlemer Ergebnisse nicht mehr in Frage und kann sich über die Exklusivität der Nachricht freuen. Die Jüdin im schwedischen Exil wird eingeweiht, während die «arischen» Physiker in Hahns Institut nichts von der Brisanz der Experimente im benachbarten Bestrahlungszimmer ahnen. Für Hahn und Straßmann wiederum ist ihre vorsichtige Zustimmung ein Anreiz zur Fortsetzung ihrer Bemühungen.
     
    In seiner Dankesrede zur Verleihung des Nobelpreises nennt Enrico Fermi das vermeintliche transuranische Element 94 «Hesperium». In der griechischen Antike war Hesperia der idealistisch überhöhte Name für Italien. Aber im Hesperia der Gegenwart herrschen ganz und gar keine idealen Zustände. Im September 1938 hat auch Mussolini die ersten antisemitischen Gesetze erlassen. Eine faschistische Zeitung wirft Fermi vor, sein Institut für Physik in eine Synagoge

Weitere Kostenlose Bücher