Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
verwandelt zu haben. Der Katholik und seine jüdische Frau Laura beschließen, mit ihren beiden Kindern Italien für immer zu verlassen. Bei den italienischen Behörden stellt Fermi einen Antrag auf eine sechsmonatige Reise in die USA. In Wirklichkeit aber liegt ihm das Angebot der Columbia University in New York für eine Professur vor. Und so nutzt die Familie Fermi den Aufenthalt in Stockholm, um am 24. Dezember von Southampton aus den Dampfer nach New York zu besteigen. Vor einer Beamtin der amerikanischen Einwanderungsbehörde muss der frisch gekürte Nobelpreisträger eine gesetzlich vorgeschriebene Intelligenzprüfung bestehen. Laura Fermi berichtet:
«‹Wie viel ist fünfzehn und siebenundzwanzig?›, fragte sie Enrico.
Gleichmütig antwortete er ‹Zweiundvierzig›.
‹Wie viel ist neunundzwanzig geteilt durch zwei?›
‹Vierzehneinhalb›, sagte Enrico. Überzeugt, dass er gesunden Geistes sei, ging die Beamtin zum nächsten Kandidaten weiter.» [Fer:143]
Auch Otto Hahn kommt an diesem Mittwoch, dem 21. Dezember, nicht zur Ruhe. Er wartet Meitners Antwort nicht ab, sondern schreibt spätabends den nächsten Brief an sie: «Wie schön und aufregend wäre es jetzt gewesen, wenn wir unsere Arbeiten wie früher gemeinsam hätten machen können …» Die Weihnachtsferien haben begonnen, und das Institut ist bereits geschlossen. Straßmann stellt gerade die rund um die Uhr laufenden Geigerzähler ab. Nun aber drängt es beide zur Veröffentlichung. Gemeinsam schreiben sie einen Artikel über den irritierenden Bariumfund im bestrahlten Uran – ein Element, das 36 Kernladungen leichter ist als Uran. «Wir können unsere Ergebnisse nicht totschweigen, auch wenn sie physikalisch vielleicht absurd sind … Am Freitag soll die Arbeit zu den Naturwissenschaften gebracht werden» [Hah 4 :81]. Der Herausgeber hat am Telefon versprochen, den Artikel noch in der Ausgabe vom 6. Januar 1939 abzudrucken. Die Dahlemer wollen ihre Entdeckung als Erste publizieren – auch wenn sie selbst noch keine schlüssige physikalische Erklärung dafür parat haben. Die ärgsten Konkurrenten in Paris und in den USA könnten ja genauso nah dran sein wie sie selbst.
Die Briefe zwischen Stockholm und Berlin kreuzen sich, und so erfährt Hahn zu spät, dass Lise Meitner an ebendiesem Freitag schon in den Kurort Kungälv bei Göteborg an der schwedischen Westküste abgereist ist. Die Familie ihrer Freundin Eva von Bahr-Bergius lebt dort. Mit ihr will sie das erste Weihnachtsfest im Exil feiern. Meitners Neffe, der Kernphysiker Otto Robert Frisch, ist ebenfalls eingeladen. Er ist 34 Jahre alt und arbeitet seit vier Jahren an Bohrs Institut in Kopenhagen. Zur Begrüßung will er seiner Tante sofort von seinem Entwurf eines neuen Riesenmagneten vorschwärmen. Doch die will nichts davon wissen und gibt ihm Hahns Brief zu lesen.
Als Tante und Neffe an diesem Tag vor Weihnachten – sie in Stiefeln und er auf Langlaufskiern – zu einem klärenden Gespräch durch den verschneiten Ort in den nahe gelegenen Wald aufbrechen, deutet noch nichts auf eine Sternstunde der Physik hin. Bei Frisch halten sich nach der Brieflektüre Verwirrung und Faszination vorerst die Waage, während Meitner ja schon seit drei Tagen das Barium-Bruchstück als Faktum anerkennt und sich den Kopf über eine plausible Erklärung zerbricht. Einen Fehler von Hahn und Straßmann, wie Frisch zunächst vermutet, hält sie inzwischen für ausgeschlossen. Aber beide wollen sich den Urankern auch nicht als einen spröden Körper vorstellen, der wie Fensterglas zersplittern kann. Und so kommen sie bald auf ein flexibleres und wirklichkeitsnäheres Bild zu sprechen, nämlich auf Niels Bohrs Modell vom Atomkern als Flüssigkeitstropfen. Die Oberflächenspannung hält den Tropfen zusammen und verhindert sein Auseinanderfallen. Ließe sich dieser Gedanke womöglich auf den Atomkern übertragen? Dort könnte die den Kern zusammenhaltende «starke Kernkraft» die Funktion der Oberflächenspannung übernehmen, fällt Frisch dazu ein. Aber die elektrische Ladung des Kerns wirkt der Kernkraft entgegen. Und gerade das Uran mit den höchsten in der Natur vorkommenden Kernladungen verfügt über immense innere Abstoßungskräfte.
Inzwischen sitzen die Wanderer auf einem umgefallenen Baumstamm, kramen Zettel aus den Taschen hervor und fangen an zu rechnen. «Wir fanden», erinnert sich Frisch, «dass die Ladung des Urankerns tatsächlich genügte, um die Oberflächenspannung
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