Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Meitner einen Brief an die französischen Kollegen geschrieben und ihnen in herablassendem Ton nahegelegt, die Behauptung zurückzunehmen, dass diese radioaktive Substanz existiere. Dann würden sie auf eine Kritik in der Fachpresse verzichten. Als man in Paris den onkelhaften Tipp aus Berlin dann tatsächlich befolgt, trägt die neue Interpretation aber nicht gerade zur Klärung bei. Jetzt soll der 3,5-Stundenkörper nämlich Ähnlichkeit mit dem Element Lanthan haben – eine silbrigweiße Seltene Erde mit der Ordnungszahl 57. Sollten sie hier etwa eine radioaktive Lanthan-Atomsorte künstlich erzeugt haben? Aber ein einzelnes, langsames Neutron könnte doch niemals mit so viel Energie in den Kern eindringen, um ein derart riesiges Bruchstück aus dem Uranatom herauszusprengen. Das widerspricht allen gängigen Vorstellungen über Stabilitätszustände im Atomkern – eine geradezu absurde Idee, die an Ida Noddacks eigenwillige Deutung der ersten Transuran-Experimente Enrico Fermis erinnert.
Als Irène Joliot-Curie im September 1938 ihre Lanthan-Vermutung publiziert, übt Hauptfeldwebel Werner Heisenberg noch immer den Umgang mit der Waffe und robbt mit seinen Gebirgsschützen durchs Sonthofener Gelände. Seine Einheit ist, wie alle anderen Truppenteile auch, in Alarmbereitschaft versetzt worden. Scharfe Munition wird ausgegeben. Die Welt hält den Atem an, während Hitler um den Anschluss des Sudetenlandes pokert. Es umfasst die Höhen und Täler des Erzgebirges zwischen Böhmen, Mähren und Schlesien. Unverhohlen droht er den Tschechen und der Welt mit einem Militärschlag. Am 29. September bekommt er schließlich seinen Willen. In München geben ihm der italienische Diktator Benito Mussolini, Englands Premierminister Neville Chamberlain und Frankreichs Ministerpräsident Édouard Daladier ihre Zustimmung zum Anschluss des Sudetenlandes ans Deutsche Reich. Kein Schuss fällt, und die Reservisten dürfen endlich nach Hause fahren. Auch Werner Heisenberg hat den ganzen Sommer für Kriegsmanöver geopfert und kehrt erst im Oktober nach Leipzig zurück. Die Uranbergwerke im böhmischen St. Joachimsthal mit ihrer ergiebigen Pechblende gehören jetzt zum Deutschen Reich.
Im Oktober 1938 benutzen Otto Hahn und Fritz Straßmann zur Bestrahlung ihrer Uranproben ein Radium-Beryllium-Präparat. Und es sieht so aus, als seien sie tatsächlich einer bedeutsamen Angelegenheit auf der Spur. Sie halten die verwirrenden Ergebnisse der Franzosen für überprüfenswert und bringen ihre Neutronenkanone in Stellung. Zehn Tage später sind schon 16 radioaktive «Körper» – wie man in Dahlem die Bestrahlungsprodukte nennt – mit unterschiedlichen Halbwertszeiten aus dem bestrahlten Uran hervorgegangen. Durch diese inflationäre Entwicklung gerät Fermis ursprüngliches Konzept der Transurane ins Wanken.
Jetzt wird in Berlin Lise Meitners Klugheit und Deutungshoheit schmerzlich vermisst. In Stockholm fühlt sie sich aufs Abstellgleis geschoben, muss um jedes Gerät und jedes Präparat betteln. Laborleiter Manne Siegbahn interessiert sich offenbar gar nicht für ihren reichen Erfahrungsschatz. Er setzt ganz und gar auf die Zyklotrone, die Ernest Lawrence in Berkeley baut. Und so ist Lise Meitner im schwedischen Exil nicht viel mehr als ein geduldeter Flüchtling und eine schlecht bezahlte Laborassistentin. Der Briefwechsel zwischen Hahn und Meitner ist allerdings umso lebhafter. Da saugt sie jede Information über die Experimente im Kaiser-Wilhelm-Institut begierig auf, gibt Ratschläge, wagt Ferndiagnosen und fühlt sich immer noch als spiritus rector des berühmten Dahlemer Trios. Am 25. Oktober schreibt Otto Hahn an die «Liebe Lise!», Straßmann und er hätten nun endlich auch die umstrittene Substanz mit der Halbwertszeit von 3,5 Stunden identifiziert: «Schade, dass du nicht hier bist, um den aufregenden Curiekörper mit aufzuklären» [Sim 1 :283].
Anfang November sind die beiden Radiochemiker überzeugt, aus bestrahlten Uranproben mit Hilfe der Trägersubstanz Barium drei bisher unbekannte künstliche Atomsorten des Radiums abgesondert zu haben. Eine höchst ungewöhnliche Entdeckung, wenn man berücksichtigt, dass Radium als 88. Element vier Kernladungen weniger hat als das 92. Element Uran. Und so stellen sie die kühne Behauptung auf, das Radium sei durch Absplitterung dieser vier Kernladungen aus dem Uran entstanden – eine These, die mindestens so gewagt ist wie die Idee von den Transuranen. Denn noch immer
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