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Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Titel: Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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fast vollständig zu überwinden. Der Urankern glich also tatsächlich einem wackelnden, instabilen Tropfen, der bei der geringsten Provokation, wie zum Beispiel beim Aufprall eines einzigen Neutrons, in zwei Teile zerfallen konnte» [Frs:149]. Zwar sind beide seit Jahren mit dem Tropfenmodell vertraut, sind aber offenbar die Ersten, die es auf diesen nie zuvor für möglich gehaltenen Kernteilungsvorgang anwenden. Wirkt also eine Kraft auf den Kern ein, dann zieht er sich zunächst in die Länge, und es entsteht ein hantelförmiges Gebilde. Schließlich wird er in der Mitte eingeschnürt, bis er sich in zwei ungefähr gleich große, leichtere Kerne teilt. Und während sie noch rechnen und diskutieren, geraten sie ins Staunen über die Dynamik, die bei diesem Prozess ins Spiel kommt. Denn nach der Trennung fliegen die beiden «Tröpfchen» wegen ihrer wechselseitigen Abstoßung mit der furiosen Geschwindigkeit von rund 30   000 Kilometern pro Sekunde auseinander. Die dafür nötige Beschleunigungsenergie müsste nach ihren Berechnungen etwa 200 Millionen Elektronenvolt betragen.
    Auf der Suche nach der Quelle dieser Energie erinnert sich Lise Meitner an die Formel für die Berechnung von Kernmassen. Sie stellen fest, «dass die zwei Kerne … insgesamt leichter als der ursprüngliche Urankern sein würden; der Unterschied betrug etwa ⅕ Protonenmasse. Wenn aber Masse verschwindet, entsteht Energie nach Einsteins Formel E = mc 2 ; nun entsprach ⅕ Protonenmasse gerade 200 Millionen Elektronenvolt. Hier war also die Energiequelle: alles stimmte!» [Frs:149]. Heureka! Das könnte die Erklärung für die Hahn’schen Resultate gewesen sein. So muss der Teilkern Barium mit 56 Protonen entstanden sein. Und vielleicht ist ja Krypton mit seinen 36 Protonen das zweite Bruchstück, denn zusammen ergeben sie 92, die Kernladungszahl des Urans. Meitner nimmt sich vor, Hahn auf die Krypton-Fährte zu lenken. Die bei der Teilung eines einzigen Uranatomkerns frei werdende Energie reicht aus, «um ein Sandkorn von sichtbarer Größe ein kleines Stück in die Luft zu katapultieren» [Rho:255], veranschaulicht Frisch die Bedeutung von 200 Millionen Elekronenvolt. Das klingt zwar wenig spektakulär, allerdings tummeln sich in einem Gramm Uran großzügig geschätzte 2   500   000   000   000   000   000   000 Atome. Falls rein rechnerisch nur jeder tausendste Kern davon zerplatzte, entstünde schon ein veritabler bodennaher Sandsturm.
    In den ersten Tagen des neuen Jahres 1939 ist Lise Meitner in einer zwiespältigen Stimmung. Sollten sie und ihr Neffe mit ihrer Erklärung für Hahns Bariumfund richtigliegen, dann hieße das: Seit 1934 haben Fermi in Rom, die Joliots in Paris und das Trio in Berlin Urankerne zerplatzen lassen, ohne es geahnt zu haben. Dabei ist vermutlich kein einziges Transuran entdeckt worden. Jedenfalls liegt der Verdacht nahe, dass Fermis «Ausonium» und «Hesperium» mit ihren vermeintlichen 93 und 94 Protonen sowie die «Dahlemer Transurane» 95 und 96 allesamt leichtere Fragmente der Uranzertrümmerung sind. Sollte also die Arbeit der vergangenen vier Jahre ein einziger Irrtum gewesen sein und ausgerechnet die Nörglerin Noddack die zündende Idee gehabt haben? Andererseits haben sie und Frisch als erste Physiker eine sensationelle Entdeckung womöglich theoretisch abgesichert – ein später Triumph trotz Meitners misslicher Lage. Seit einem halben Jahr haust sie in einem winzigen Hotelzimmer mit halb ausgepackten Koffern. Beim Schreiben muss sie die Notizen und Papiere über Stühle, Koffer und Bett ausbreiten. Sie hat «buchstäblich außer den paar Kleidern einfach gar nichts» [Hah 3 :93]. Und Institutsleiter Manne Siegbahn lässt sie täglich spüren, dass sie nur ein ungebetener Gast ist.
    Bei seiner Rückkehr nach Kopenhagen erzählt Frisch sofort Niels Bohr von dem kreativen Weihnachtsspaziergang in Schweden. Und der normalerweise überaus skeptische Chef reagiert enthusiastisch: «Ach, was für Idioten wir doch waren! Ach, das ist ja wunderbar! Genauso muss es sein! Haben Sie mit Lise Meitner schon etwas darüber geschrieben?» [Frs:150]. Der Artikel für die Zeitschrift Nature entsteht während langer Telefongespräche zwischen Stockholm und Kopenhagen. Inzwischen hat Frisch auch schon einen griffigen Namen für Hahns und Straßmanns Coup parat: «Kernspaltung». Es ist die deutsche Entsprechung des englischen Wortes fission , das die Zellteilung in Pflanzen und Tieren beschreibt –

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