Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
der Inbegriff des Lebens schlechthin. «Ich schrieb meiner Mutter nach Hause», berichtet Frisch, «dass ich mich wie jemand fühlte, der einen Elefanten beim Schwanz gepackt hat» [Rho:259].
Als die wissenschaftliche Welt am Freitag, dem 6. Januar 1939, Otto Hahns Artikel in den Naturwissenschaften liest, sind Physiker und Chemiker wegen des unglaublichen Befunds zwar aus dem Häuschen, doch die Idee der Kernspaltung blitzt nirgendwo im vorsichtig formulierten Text auf. Kein Wunder, denn der Entdecker selbst ist sich zu diesem Zeitpunkt über den Vorgang noch nicht wirklich im Klaren. Aber auch Lise Meitner, die seit Weihnachten plausible physikalische Zusammenhänge mit den passenden Zahlen belegen kann, hält sich bedeckt. In ihrem Neujahrsbrief hat sie Hahn zwar vorsichtig bestärkt: «… vielleicht ist es energetisch doch möglich, dass ein so schwerer Kern zerplatzt …» und drei Tage später geschrieben: «Ich bin jetzt ziemlich sicher , dass Ihr wirklich eine Zertrümmerung zum Barium habt …» [Hah 4 :84 f.]. Aber sie weiht ihn mit keiner Silbe in die Erkenntnisse ein, die sie gemeinsam mit Frisch gewonnen hat. Erst zwei Wochen später deutet sie das Tröpfchenmodell und den Masseverlust an und erklärt ihr bisheriges Schweigen mit dem Umstand, Hahn hätte ohnehin nichts Unveröffentlichtes zitieren können. Sie werde ihm aber sofort eine Kopie des Manuskripts schicken, sobald Nature die Annahme bestätige.
Am Abend dieses 6. Januar sitzen Otto Robert Frisch und Niels Bohr in Kopenhagen zusammen und diskutieren den Entwurf für den Nature -Artikel, der Hahns und Straßmanns Entdeckung erstmals interpretieren soll. Am nächsten Morgen eilt Frisch zum Bahnhof und reicht Bohr noch die ersten Seiten der Niederschrift durchs Zugfenster. Bohr fährt nach Göteborg, um von dort aus mit dem Schiff in die USA zu reisen. Er will mit seinem amerikanischen Schüler John Archibald Wheeler eine Weile in Princeton zusammenarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt ist sich zwar der kleine Kreis der Eingeweihten über die Bedeutsamkeit der Kernspaltung im Klaren, aber noch niemand bringt eine Kettenreaktion ins Spiel, die erst die wahre Dimension der Entdeckung eröffnen wird.
In der zweiten Januarwoche – Otto Hahn wartet in Berlin gespannt auf Reaktionen – laufen sich in New York zwei Physiker über den Weg, die charakterlich und in ihrer Arbeitsauffassung unterschiedlicher kaum sein könnten. Enrico Fermi ist gerade mit seiner Familie in der neuen Welt eingetroffen und hat in ein ganz in der Nähe der Columbia University liegendes Hotel eingecheckt. Hier wollen die Emigranten so lange bleiben, bis sie eine passende Wohnung gefunden haben. Leo Szilard staunt nicht schlecht, als er eines Morgens den großen Enrico Fermi im Foyer seines Hotels entdeckt. Er ist ausgerechnet im King’s Crown abgestiegen, in dem auch Szilard wohnt. Der wird an eine seltene Schicksalsfügung gedacht haben. Denn er ist davon überzeugt, der ideale Partner für den Entdecker der langsamen Neutronen zu sein.
Seit 1936 hat der Visionär Szilard immer wieder versucht, den besonnenen Praktiker Fermi für die Idee der nuklearen Kettenreaktion zu begeistern. Ebenso erfolglos hat er jahrelang nach einem geeigneten Element gefahndet, in dem sich nach Neutronenbeschuss eine Kettenreaktion ereignet. Fermi hingegen hat zwar den richtigen Stoff untersucht, ahnt aber in diesen Tagen noch nicht, dass er seit dem legendären Experiment im Goldfischteich seines Instituts vom Oktober 1934 fortwährend Uranatomkerne gespalten hat. Die Neuigkeit von der Kernspaltung hat beide noch nicht erreicht.
Beim Abschied auf dem Bahnhof von Kopenhagen hat Niels Bohr seinem Mitarbeiter Robert Frisch versprochen, bis zur Veröffentlichung seines gemeinsam mit Meitner verfassten Nature -Artikels niemandem von der physikalischen Interpretation der radiochemischen Befunde Hahns zu erzählen. Frisch, der inzwischen im selben Zimmer wohnt, in dem Werner Heisenberg seine ersten Sätze über die Unschärferelation verfasste, ruft ihm noch hinterher, er habe gerade die Dahlemer Versuche wiederholt und das Phänomen der Kernspaltung nun auch auf physikalischem Weg bestätigen können. Für einen begnadeten Kommunikator wie Bohr, dessen Physik sich erst im Gespräch mit Freund und Feind entfalten kann, kommt dieses Schweigegelöbnis fast schon einem Berufsverbot gleich. Denn neun Tage als Geheimnisträger auf hoher See zu verbringen, ohne diese womöglich umwälzende
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