Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Entdeckung der Kernspaltung wenigstens in ihren Grundzügen mit anderen diskutieren zu können, ist eigentlich eine unzumutbare Situation. Da trifft es sich natürlich ausgezeichnet, dass Bohr an Bord des Dampfers Drottningholm rein zufällig eine Tafel auftreibt, an der er den beiden Mitreisenden, seinem Sohn Erik und dem belgischen Kollegen Léon Rosenfeld, diese neue, unglaubliche Anwendung seines Tröpfchenmodells demonstrieren kann. Selbstverständlich nur in homöopathischer Dosierung – anfangs jedenfalls. Und so steigen am 16. Januar 1939, als das Schiff im Hafen von New York eingelaufen ist, drei Menschen von Bord, die eine neue Idee in sich tragen, von der bald alle Physiker in der Neuen Welt begeistert sein werden.
Eine Sensation dieser Größenordnung lässt sich nicht lange verheimlichen. Wenn ein Physiker davon erfährt, muss er zwangsläufig darüber sprechen, wenn er nicht platzen will vor Stolz und Begeisterung, nun auch zum rasant sich erweiternden Kreis der Schweigepflichtigen zu gehören. Sein nächster Gesprächspartner wiederum muss ihm bei seiner Ehre versprechen, unbedingtes Stillschweigen zu bewahren, was dieser in neugieriger Erwartung natürlich leichthin zusichert, nur um es dann seinerseits seinem eigenen Vertrauten abzuverlangen. Es ist ohnehin erstaunlich, dass Bohr sich tatsächlich zurückhalten kann, als ausgerechnet Enrico Fermi ihn am Hafen abholt, gemeinsam mit Princeton-Dozent und Gastgeber John Archibald Wheeler.
Nicht einmal die wichtigsten Wege des Hörens und Weitersagens lassen sich zweifelsfrei rekonstruieren. Die Erinnerungen der prominenten Beteiligten, wer in jenen aufregenden Januartagen 1939 welchen Platz in der Informationskette einnahm, sind widersprüchlich. Nur Eines ist gewiss: Princeton, knapp 100 Kilometer südwestlich von Manhattan Island, ist die Quelle. Hier residieren die Bohrs und Rosenfeld, der bereits auf der Zugfahrt vom Hafen nach Princeton John Wheeler instruiert hat. In den Labors, auf den Fluren und in der Cafeteria der Universitäten an der Ostküste breitet sich das neue Wissen in rasantem Tempo aus.
Sogar auf der Krankenstation von Princeton ist es kein Geheimnis. Wenige Tage nach Bohrs Ankunft in New York bekommt der an Gelbsucht leidende ungarische Physiker Eugene Wigner Besuch von seinem Landsmann Leo Szilard. Bevor der Hut und Mantel ablegen kann, hat Wigner ihn schon mit der Neuigkeit überrumpelt. Den Studienfreund aus Berlin müsste er eigentlich gar nicht auf das Schweigegelöbnis Bohrs und auf die Prioritätsansprüche von Frisch und Meitner einschwören. Szilard ist wahrscheinlich der einzige Physiker auf der Welt, der über die Entdeckung der Kernspaltung eine rigorose Nachrichtensperre verhängen würde, wenn er die Macht dazu hätte. «Ich verstand augenblicklich, dass diese Spaltfragmente schwerer sein mussten, als es ihren Ladungen entspricht. Deshalb würden sie zusätzliche Neutronen abgeben. Und wenn bei diesem Spaltungsprozess genügend Neutronen entstünden, dann sollte natürlich auch eine Kettenreaktion zustande kommen. All die Vorhersagen von H. G. Wells schienen mir plötzlich äußerst realistisch zu sein» [Lan:179]. Jetzt muss er unbedingt mit Fermi sprechen.
Der erfährt es etwa zum gleichen Zeitpunkt von dem jungen Columbia-Wissenschaftler Willis Lamb, der wiederum ein selbstverständlich streng vertrauliches Gespräch mit Bohr in kleiner Runde als seine Quelle nennt. Oder war es doch John Wheeler? Die Eigendynamik der Neuigkeit ist jetzt nicht mehr steuerbar. Herbert Anderson, Fermis späterer Mitarbeiter, erzählt, Bohr habe es nach ein paar Tagen in Princeton nicht mehr ausgehalten, habe sich in den Zug nach New York gesetzt und sei in die Columbia University gestürmt, um Fermi endlich höchstpersönlich einzuweihen. Nicht ahnend, dass Lamb schneller gewesen ist. Da er Fermi nicht angetroffen habe, sei er auf Anderson zugeeilt, habe ihn mit seinen Torwartpranken an den Schultern gepackt und beschwörend auf ihn eingeredet: «Hören Sie, junger Mann, ich habe Ihnen etwas wirklich Bedeutsames mitzuteilen …» [And].
Leo Szilard wiederum besteht auf seiner Version, Fermi sei anfangs erstaunlich immun gegen den «Bazillus» der Kernspaltung gewesen. Er habe Hahns Resultate und deren Deutung für nicht viel mehr als ein «Kuriosum» gehalten. Dass Fermi erst einmal zurückhaltend reagiert, ist verständlich angesichts der mit seinem Namen verbundenen Leistungen, die plötzlich in einem nicht mehr ganz so
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