Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Kein namhafter Physiker aus Kalifornien hat die dreitägige Zugfahrt auf sich genommen, um an der Konferenz in Washington teilzunehmen, die offiziell der Tieftemperaturphysik gewidmet gewesen ist. Und deshalb kann Robert Oppenheimer noch ein Wochenende ohne das Wissen um dieses erstaunliche Verhalten des Urans verbringen.
Am Montag, dem 30. Januar, bringt auch der San Francisco Chronicle die Meldung von der Kernspaltung. Der Physiker Luis Alvarez lässt sich gerade – so will es die Legende – in Berkeley die Haare schneiden, als er die Zeitung aufschlägt und die Nachricht liest. Er schiebt den Friseur beiseite und sprintet ins Strahlungslabor der Universität, wo sich sein Student Phil Abelson seit einiger Zeit schon um die vermeintlichen Transurane bemüht. Jetzt soll er wenigstens als Erster in Kalifornien die Kernspaltung im Experiment bestätigen. Alvarez nimmt Kontakt zu Robert Oppenheimer auf, der spontan mit dem Ausruf «Das ist unmöglich» reagiert und gleich an der Tafel den mathematischen Beweis führt, warum der Kern nicht spaltbar ist. Am nächsten Tag aber lässt auch er sich in Alvarez’ Labor von den unwiderstehlichen 100-Megaelektronenvolt-Ausschlägen auf dem Oszilloskop eines Besseren belehren. Oppenheimer gelangt «in weniger als fünfzehn Minuten zu der Einsicht, dass es sich in der Tat um einen echten Effekt handelte und … dass bei der Reaktion wahrscheinlich etliche Neutronen herausspringen und dass man Bomben bauen und Strom gewinnen könnte … Es war verblüffend zu sehen, wie schnell sein Gehirn arbeitete» [Rho:271]. Ein paar Tage später spekuliert er über ein Uran-Deuterium-Gemisch in einem Würfel mit einer Kantenlänge von zehn Zentimetern. Nach seinen Berechnungen, so schreibt er seinem Kollegen George Uhlenbeck an der Columbia University, könne sich das Ding «ohne weiteres selbst in die Hölle sprengen». Eine Woche später entdeckt Oppenheimers Student Philip Morrison auf der Tafel in Arbeitszimmer seines Professors die «abscheulich schlechte Zeichnung – einer Bombe» [Rho:271].
Wer eine Hypothese als Erster veröffentlicht, hat sie auch als Erster erdacht. So sind die Regeln im Wissenschaftsbetrieb, selbst wenn zu diesem Zeitpunkt schon ein Dutzend Spitzenforscher dieselben Schlussfolgerungen gezogen haben sollten. In ihrem zweiten Artikel vom 10. Februar 1939 sprechen Otto Hahn und Fritz Straßmann nun erstmals von der erwiesenen Urankernspaltung, äußern aber auch als weiteres Novum die Vermutung, im Kernspaltungsprozess würden pro Kern zusätzliche Neutronen frei – die Voraussetzung für eine Kettenreaktion. Experimentell beweisen können sie es nicht. Auch Roberts und Hafstad setzen inzwischen ihren Atomzerschmetterer in Washington für die Suche nach den überzähligen Neutronen ein. Mit derselben Absicht versenkt Enrico Fermi seine Strahlenquelle in einem Wassertank. Der steht im Keller des Columbia-Physikinstituts. Währenddessen hat Leo Szilard im 6. Stock desselben Gebäudes den kanadischen Gastwissenschaftler Walter Zinn für seine Zwecke eingespannt. Gemeinsam haben sie ihren Versuch so raffiniert arrangiert, dass die Lichtblitze auf dem Oszilloskop dieses Mal nicht den Energiestoß der Kernspaltung anzeigen sollen, sondern die bei jedem Spaltungsvorgang frei werdenden Neutronen.
Am Abend des 3. März ist es endlich so weit. Szilard muss nur noch einen Schalter umlegen und den Bildschirm beobachten. «Wir sahen die Blitze. Wir beobachteten sie eine Weile, und dann schalteten wir alles ab und gingen nach Hause» [Lan:186]. Kurz darauf wird Edward Teller von einem mysteriösen Anruf beim Musizieren gestört. Er sitzt gerade am Klavier, ein Freund spielt Violine, und sie geben sich alle Mühe, «Mozart wie Mozart klingen zu lassen», wie sich Teller erinnert. Der Mann am Telefon sagt nur einen Satz auf Ungarisch: «Ich habe die Neutronen gefunden» [Lan:187], und legt den Hörer wieder auf. Für den einsamen Fußgänger auf dem Weg zurück in das King’s Crown Hotel besteht jetzt kein Zweifel mehr, dass die Welt auf eine Katastrophe zusteuern wird, wenn er seinen heute gefundenen Nachweis überzähliger Neutronen als Voraussetzung für eine Atombombe nicht konsequent für sich behielte.
Auch in Amerika hält Szilard an seiner in Berlin liebgewonnenen Gewohnheit fest, unangemeldet in die Labors der Kollegen zu spazieren und den Gehaltsempfängern die kostenlosen Ratschläge des ewig klammen Selfmademan zu erteilen. Ein häufig frequentiertes
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