Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Opfer ist Isidor Rabi. Quälgeist Szilard kann jedes Mal mit einem neu erdachten Experiment aufwarten, bis Rabi eines Tages der Kragen platzt: «Würdest du bitte verschwinden», ereifert er sich. «Du krempelst ja die ganze Physik um. Du hast einfach zu viele Ideen. Geh doch bitte nach Hause» [Lan:176]. Unmittelbar nach seinem Neutronenfund stattet er Fermi einen Besuch ab. Wenn der Nobelpreisträger schon im selben Gebäude seine Wasserspiele veranstaltet, dann könnte er doch gleich mal nach dem Rechten sehen und dem bisher Erfolglosen den entscheidenden Tipp geben.
Fermi ist zunächst irritiert von Szilards Angebot, lässt sich jedoch überzeugen, dass die Neutronen aus seiner Radon-Beryllium-Quelle zu schnell sind, um mit dem Urankern erfolgreich zu kommunizieren. Szilard bietet ihm deshalb seine etwas gemütlichere Neutronenschleuder an, die für die Beobachtung der Neutronenbefreiung besser geeignet ist, nämlich ein Gramm reines Radium. Entzückt hatte Szilard festgestellt, dass er in Manhattan, auf dieser großartigen Insel mit den himmelstürmenden Häusern, wirklich alles kaufen kann. Um die Ecke gibt es sogar die Eldorado Radium Corporation, die einen Mietservice für Radium anbietet. Für ein paar hundert Dollar Leihgebühr darf er es drei Monate lang benutzen. Das Geld dafür hat er sich allerdings auch nur geliehen. Mit Szilards effektiverer Neutronenquelle entdeckt jetzt auch Fermi «rund zwei» frei werdende Neutronen bei jeder Kernspaltung. Und Szilard freut sich diebisch, dass er Fermi, dem «Erfinder» der langsamen Neutronen, dessen eigene Entdeckung als Problemlösung anbieten konnte.
Gemeinsam planen die beiden Exilanten und der junge Anderson jetzt ein neues Großexperiment, das zu eindeutigeren Ergebnissen führen soll. Denn letztlich ist auch Szilards Befund nicht ganz präzise gewesen. Die Zahl der pro Spaltung frei werdenden Neutronen kann auch er nur auf «etwa zwei» schätzen. Szilard gelingt es, die beiden gebürtigen Russen, denen die Eldorado Radium Corporation um die Ecke gehört, so schwindlig zu reden, dass sie ihm 500 Pfund Uranoxid kostenlos überlassen. Allerdings weigert sich der auf Unabhängigkeit bedachte Forscher, sich für den aufwändigen Versuch in Fermis Labor die Beine in den Bauch zu stehen und langweilige Fronarbeit zu verrichten, wie das schmierige Uranoxid in 52 dünne Röhren zu stopfen, Magesiumsulfatlösungen anzumischen und auch gelegentlich eine Nachtschicht zur Überwachung der Radioaktivität zu übernehmen [And:10]. Schließlich hat er ihnen mit seiner Radiumkanone und dem Uranschnäppchen den – wie er findet – entscheidenden Beitrag zum Gelingen des Versuchs bereits geliefert. Die Drecksarbeit können andere machen. Immerhin ist er so fair und engagiert einen Assistenten, der seinen Arbeitsanteil übernimmt, damit er selbst wieder Zeit zum Nachdenken findet. Bei der Auswertung der Ergebnisse mischt Szilard dann jedoch wieder mit und freut sich über das eindeutige Ergebnis, dass beim Beschuss des Urans mehr Neutronen frei werden als eingefangen. Aber in Fermis Augen hat Szilard mit seinem unkollegialen Verhalten eine «Todsünde» begangen [Rho:296]. Bei seinen künftigen Experimenten verzichtet er auf die Mitarbeit des unkonventionellen Kollegen. Doch der lässt sich davon überhaupt nicht beeindrucken und denkt schon über neue Versuche nach.
Allerdings ernten weder Szilard noch Fermi den Lorbeer, sondern Frédéric Joliot-Curie und seine Mitabeiter Hans Halban und Lew Kowarski. Nur fünf Tage nach Szilards unveröffentlichtem Versuchsergebnis vom 3. März liefern sie den experimentellen Beweis für «mehr als ein [frei werdendes] Neutron» und publizieren ihr Resultat am 22. April in der Zeitschrift Nature . In diesem Artikel verzichtet Joliot-Curie explizit auf das Wort Atombombe als mögliche Konsequenz aus seinem Nachweis. Aber die Kernspaltung bezeichnet er als «nukleare Explosion» – ein versteckter Hinweis auf seine Nobelpreisrede von 1935, als er vor der Bombe warnte? Kurz darauf präzisiert das Pariser Team seinen Befund: Statistische 3,5 Neutronen werden pro Kernspaltung freigesetzt. Spätestens jetzt, im April 1939, müssten Physiker eigentlich begreifen, dass der Weg zu einer nuklearen Energiemaschine und zu einer Atombombe vorgezeichnet ist. Und so überrascht es denn kaum, dass einige deutsche Wissenschaftler – sei es aus patriotischen Motiven oder aus persönlichem Ehrgeiz – die Regierungsbehörden auf das gewaltige
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