Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
keiner von beiden Fermi in Washington anruft und ihm erzählt, was sich am Vorabend auf dem Oszilloskop ereignet hat. Beide glauben, der jeweils andere habe sofort zum Hörer gegriffen.
Leo Szilard wäre wahrscheinlich geplatzt, hätte er Fermis Vortrag in Washington gehört. Denn der weist unmissverständlich darauf hin, Frisch und Meitner hätten bei ihrer Deutung die Kettenreaktion übersehen, die mit der Kernspaltung einhergehen könne. Szilard gegenüber hat Fermi diese Möglichkeit in den vergangenen zwei Wochen allerdings stets heruntergespielt. Sollte jetzt endlich die Zeit gekommen sein, gemeinsam mit Fermi – natürlich unter strenger Geheimhaltung – an der Kettenreaktion zu arbeiten?
Während die ersten Kongressteilnehmer in Washington schon mitten in Fermis Vortrag aus dem Saal stürzen, um ihren eigenen Laborassistenten und Kollegen telefonisch Anweisungen für eigene Versuche zu geben, schleppt an diesem 26. Januar 1939 ein Mann seinen von der Grippe geschwächten Körper in New York zum Büro der Western Union am Broadway und gibt ein Telegramm auf. Es ist an die Britische Admiralität gerichtet und lautet, kurz und prägnant: «Betrifft die Patente 8142/36 Bitte ignorieren Sie meinen letzten Brief – Stop – Brief folgt Leo Szilard» [Lan:180].
Zu den Konferenzteilnehmern, die Fermis Vortrag an diesem Donnerstagabend nicht bis zum Ende verfolgen, gehören auch Lawrence Hafstad und Richard Roberts. Sie eilen in den Keller ihres Fakultätsgebäudes für Erdmagnetismus an der Carnegie Institution in Washington und bereiten das einfache Experiment vor, das Fermi gerade an der Tafel skizziert hat. Es ist im Wesentlichen der Versuch, den Herbert Anderson am Abend zuvor in New York realisiert haben sollte. Dabei stoßen die beiden Physiker auf technische Schwierigkeiten, die sie erst zwei Tage später in den Griff bekommen. Am späten Nachmittag des 28. Januar registrieren sie etwas Ungewöhnliches. Sie rufen Bohr an, und der kommt noch am späten Abend mit seinem Sohn Erik, Enrico Fermi, Edward Teller und ein paar anderen Kollegen in Nadelstreifenanzügen über eine Stahlleiter in den kühlen Institutskeller geklettert. Als Roberts das Oszilloskop einschaltet, machen sich gleich die Alphastrahlen mit zwei Millimeter großen Ausschlägen bemerkbar. Nach gut einer Minute aber zuckt der erste grüne Blitz von 35 Millimetern Höhe über den Bildschirm. Die Herren im Keller sind beeindruckt und glauben, Zeugen der ersten direkt beobachtbaren Urankernspaltung in den Vereinigten Staaten zu sein. Doch das Anrecht auf dieses Privileg hat sich Herbert Anderson von der Columbia University gesichert, als er drei Tage zuvor in Manhattan innerhalb einer Stunde 33 starke Auslenkungen auf dem Oszilloskop gezählt hat.
In ihrer Sonntagsausgabe vom 29. Januar bringt die New York Times die Nachricht von der Kernspaltung und vergleicht sie mit einer «Atomexplosion», bei der zweihundert Millionen Volt freigesetzt würden. Dass es «nur» Elektronenvolt und Explosionen im ultramikroskopischen Maßstab sind, stört in der allgemeinen Aufregung offenbar weder Laien noch Fachleute. Die Nachrichtenagentur Science Service stuft das Hahn’sche Resultat als ebenso wichtig ein wie die Entdeckung des Radiums und stellt die Frage nach der Nutzung der Atomenergie. Die Agentur berichtet auch von der hochkarätigen mitternächtlichen Runde mit Bohr und Fermi am Zyklotron, dem neuen «Atomzerschmetterer» im Keller der Carnegie Institution. Die Gefahren der Kernspaltung werden heruntergespielt. Eine Atomwaffe sei völlig undenkbar. Das Einzige, was den Physikern bei ihren Versuchen um die Ohren fliegen könnte, sei das Laborequipment. Aber auch vor übertriebenen Hoffnungen wird gewarnt. Ozeandampfer, die mit der Energie aus einem faustgroßen Klumpen Uran den Atlantik überqueren, gehörten ins Reich der Fabel. Newsweek nimmt die Physiker auf die Schippe und zitiert wieder einmal Einsteins Witz vom Schießen auf Vögel im Dunkeln. Auch der Komiker Fred Allen kommt zu Wort, der angeblich einen Professor befragt hat, warum um alles in der Welt er Atome spalte. Die Antwort: «Es könnte ja eines Tages jemand reinkommen und ein halbes Atom verlangen» [Lan:184].
Während an diesem letzten Januarwochenende vornehmlich in Physiklabors an der amerikanischen Ostküste das Oszilloskop den letzten Skeptiker vom Beginn einer neuen Ära der Physik überzeugt, scheinen die Institute an der Westküste im Dornröschenschlaf zu liegen.
Weitere Kostenlose Bücher