Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
militärische Potenzial der Atomenergie aufmerksam machen. Zu den Ersten gehören die Göttinger Physiker Georg Joos und Wilhelm Hanle. Sie schreiben an das Reichswissenschaftsministerium und berufen sich unmittelbar auf Joliots Arbeit. Szilard ist enttäuscht, dass der Franzose seine Appelle zur Geheimhaltung von Informationen, die Assoziationen mit der Bombe zulassen, nicht beherzigt hat. Aber auch Fermi teilt Szilards Befürchtungen nicht unbedingt. Der vorsichtige Rechner gibt der Kettenreaktion im Uran zu diesem Zeitpunkt eine Chance von 10 Prozent, während Szilard von fifty-fifty ausgeht.
Wieder einmal ist es Niels Bohr, dessen Intuition auch in dieser Hinsicht zu einer wegweisenden Entdeckung führt. Natürliches Uran besteht aus zwei Atomsorten: auf tausend Atome Uran-238 kommen sieben Atome Uran-235. Bohr glaubt nun, anhand der täglich anwachsenden Erkenntnisse über Kernspaltungsversuche die Hypothese aufstellen zu können, dass bei der Bestrahlung von Uran mit langsamen Neutronen nur diese seltenen Kerne mit 235 Teilchen gespalten werden. Bohrs Einsicht dämpft die Spekulationen über eine spontan ablaufende Kettenreaktion erheblich. Denn was nutzen schon Joliots 3,5 frei werdende Neutronen pro Spaltprozess, wenn diese sofort von der dominierenden Masse der U-238-Kerne auf Nimmerwiedersehen verschluckt werden, bevor eine Kettenreaktion einsetzen kann?
Bohr spricht in diesem Frühjahr mit seinen Princeton-Kollegen sehr wohl bereits über die Realisierbarkeit einer Bombe. Zu diesem Zeitpunkt erscheinen ihm jedoch die technischen Schwierigkeiten, U-235 in ausreichender Menge von U-238 zu trennen, als unüberwindlich. Schließlich sind die beiden Atomsorten sowohl in ihren chemischen als auch in ihren physikalischen Eigenschaften kaum zu unterscheiden. Man müsse wahrscheinlich ein ganzes Land in eine riesige Uranfabrik verwandeln, um dieses Ziel zu erreichen, sinniert Niels Bohr.
Am 3. März 1939, am selben Tag, als Szilard seinen Landsmann Teller aus einer Mozartetüde reißt, schreibt Otto Hahn einen langen Brief an Lise Meitner. Er habe das Gefühl, beklagt er sich, als gleite ihm und Fritz Straßmann die Entdeckung der Kernspaltung allmählich aus der Hand. Vermeintlich unterlassene Erwähnungen ihrer gemeinsam veröffentlichten Artikel bei gleichzeitigem Wohlwollen Joliot-Curie gegenüber ließen in den Fachzeitschriften den Eindruck entstehen, als seien die Franzosen auf der gleichen Spur wie er und Straßmann gewesen. Frédéric Joliot-Curie lasse sich in Frankreich bereits als alleiniger Entdecker der Kernspaltung feiern, was auf dessen «schäbigen» Trick absichtlich falschen Zitierens zurückzuführen sei. Die spektakulären Ausschläge auf den Oszilloskopen in amerikanischen Physiklabors, die jedem Journalisten sofort einleuchten, verursachen mehr Wirbel als die kaum nachvollziehbaren chemischen Beweise für die Kernspaltung, die Hahn und Straßmann mühsam zusammentragen. Die Physiker, so scheint’s, haben die Entdeckung aus den Händen der Radiochemiker an sich gerissen.
Hahn ist pikiert und wehrt sich vehement gegen diese Darstellung in der Wissenschaftsgemeinde. Schließlich hat er doch bereits in seinem Brief vom 19. Dezember 1938 mutig vom «Zerplatzen» des Urankerns geschrieben – eine damals noch abwegige Behauptung gegen jede physikalische Vernunft. Aber auch die Nature -Veröffentlichung seiner «lieben Lise» sei so formuliert, dass einem nicht eingeweihten Leser suggeriert werde, sie und ihr Neffe hätten die Kernspaltung überhaupt erst entdeckt. Zurückblickend ärgert sich Hahn über die zu vorsichtige Wortwahl in der Arbeit vom 6. Januar. Vielleicht wäre etwas weniger Gewissenhaftigkeit und eine sensationell klingende Überschrift hilfreich gewesen, um sich die Urheberschaft zu sichern [Hah 4 :108 – 110].
Die alte Freundin in Stockholm wiegelt mit ein paar Seitenhieben auf die Franzosen ab, gibt aber zu, dass ein gegen Hahn voreingenommener Leser der bisher erschienenen Arbeiten tatsächlich zu dem Schluss kommen könne, Hahn und Straßmann seien auf die Hilfe von Physikern angewiesen gewesen, um ihre eigene Großtat überhaupt zu verstehen. Ähnlich ungeniert äußert sich später auch Einstein – was Hahns Ärger natürlich verstärkt. Meitner bedauert diese Entwicklung, denn auch in ihrer und Frischs erster Interpretation der Dahlemer Befunde werden die beiden Entdecker der Kernspaltung nur einmal kurz erwähnt und keinesfalls so gewürdigt, wie
Weitere Kostenlose Bücher