Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Tschechoslowakei einmarschiert sind. Immerhin bewilligt Admiral Bowen vom Forschungslabor der Navy dann doch noch 1500 Dollar [Seg:111]. Eine ohne Verbrennung von Sauerstoff auskommende Energiequelle wäre eine in der Tat verblüffende Alternative als Antrieb für seine U-Boote. Es ist die erste Investition einer amerikanischen Behörde in die Atomenergie.
Nach dem Göttinger Duo Joos/Hanle setzen sich Paul Harteck, Direktor des Instituts für Physikochemie in Hamburg, und sein Assistent Wilhelm Groth mit dem Heereswaffenamt in Verbindung. In ihrem Brief vom 24. April 1939 weisen sie die Waffenexperten auf die Tauglichkeit des Urans hin, eine nukleare Kettenreaktion auszulösen. Denkbar sei ein Sprengstoff, der alle konventionellen Vorstellungen von einer Waffe um viele Größenordnungen übertreffe. «Das Land, das als erstes Gebrauch davon macht», lautet die Schlussfolgerung, «besitzt den anderen gegenüber eine nicht einzuholende Überlegenheit» [Rho:293]. Harteck hatte bei Ernest Rutherford, dem Altmeister der Atomphysik, sein Handwerk gelernt. Fünf Jahre lang war er Fritz Habers Assistent in Dahlem gewesen.
Am selben Tag, als Harteck und Groth ihren Brief schreiben, landet das Alarmschreiben von Joos und Hanle auf dem Schreibtisch eines Mannes, der mehr damit anzufangen weiß als die ursprünglichen Adressaten im Wissenschaftsministerium. Abraham Esau ist Fachspartenleiter für Physik im Reichsforschungsrat und überzeugter Nationalsozialist – was man bei dem alttestamentarischen Klang seines Namens nicht ohne weiteres vermutet. Esau ist Rundfunktechniker und hat 1925 die erste UKW-Übertragung der Welt zwischen Jena und Kahla auf die Beine gestellt. Er begreift die Brisanz der neuentdeckten Kernreaktion und organisiert schnell und unbürokratisch eine Geheimkonferenz, die bereits fünf Tage später, am 29. April, in Berlin stattfindet. Es wird die Gründungsversammlung einer Organisation, die so geheim ist, dass sie keinen Namen haben darf und von ihren Mitgliedern scherzhafterweise «Uranverein» genannt wird [Sca 2 :93]. Otto Hahn ist auf Vortragsreise in Skandinavien und lässt sich entschuldigen. Esau macht von Anfang an Nägel mit Köpfen: Die eingeladenen Professoren Hans Geiger, Josef Mattauch, Georg Joos, Wilhelm Hanle, Walther Bothe und Gerhard Hoffmann erhalten den Auftrag, den sich selbsterhaltenden Kettenreaktionen auf den Grund zu gehen. Sie werden zur Geheimhaltung verpflichtet. Ein allgemeines Uranexportverbot tritt in Kraft. Der Verein erhält Zugriff auf sämtliche Uranvorräte in Deutschland, während die Bergwerke im «sudetendeutschen» St. Joachimsthal angewiesen werden, Radium bereitzustellen.
Der Physiker Siegfried Flügge ist 27 Jahre jung. Er hat bei Max Born und Werner Heisenberg studiert, ist in der Nachfolge Weizsäckers «Haustheoretiker» von Lise Meitner gewesen und auch im Frühjahr 1939 noch an Otto Hahns Institut beschäftigt. Er hätte eigentlich allen Grund, vom Direktor und von Straßmann enttäuscht zu sein. Denn warum erfahren er und seine Kollegen erst aus der Lektüre der Naturwissenschaften von den spannenden Vorgängen im eigenen Haus? Vielleicht ahnt Flügge auch, woher Lise Meitners Informationsvorsprung kommt, als er ihren Nature -Artikel vom 18. Februar liest, aber Hahn und Straßmann leugnen beharrlich, mit ihr in Kontakt gewesen zu sein. Allerdings ist Flügge zu diesem Zeitpunkt, unabhängig von Frisch und Meitner, schon zum selben Ergebnis von 200 Millionen Elektronenvolt Energiefreisetzung bei einer einzelnen Kernspaltung gelangt. Ähnlich wie Robert Oppenheimer, illustriert auch er die neue, unglaubliche Sprengkraft anhand eines Uranwürfels, der sich als Höllenmaschine erweist. War es bei Oppenheimer noch ein Würfel von zehn Zentimetern Kantenlänge, so überlegt sich Siegfried Flügge jetzt, was wohl passierte, wenn die Kettenreaktion in einem Uranwürfel von einem Meter Kantenlänge abliefe. Sein Aufsatz in der Juniausgabe der Naturwissenschaften sorgt für einiges Aufsehen. Rund vier Tonnen aufgeschüttetes Uranoxidpulver sind nötig, um ein Volumen von einem Kubikmeter zu erzeugen. Die frei werdende Energie in einem solchen Würfel, so rechnet Flügge vor, würde genügen, um das gesamte Wasser des Wannsees mit seinem Gewicht von rund einer Milliarde Tonnen 27 Kilometer hoch in die Stratosphäre zu schleudern – ein Bild, das in seiner apokalyptischen Wucht selbst den mit Größenwahn vertrauten Führer des deutschen Volkes
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