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Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Titel: Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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beeindruckt haben muss.
    Aber Flügge beschäftigt sich nicht nur mit der Sprengkraft des Urans. Gelänge den Physikern die Kontrolle über die Reaktionsketten, wäre auch eine Energiemaschine mit enormer Leistungsfähigkeit vorstellbar. Ausgehend von den vier Tonnen Uranoxid in seinem Gedankenspiel vergleicht er die «bei der Spaltung aller Urankerne» frei werdende Energiemenge mit der Gesamtleistung aller auf Braunkohlebasis arbeitenden Reichselektrowerke. «Das bedeutet, dass die angegebene Uranmenge ausreicht, um … 11 Jahre lang die ganze Leistung dieser Kraftwerke zu ersetzen» [Flü:136]. Am 15. August erscheint eine popularisierte Fassung seines Aufsatzes in der Deutschen Allgemeinen Sonntagszeitung . Andere Blätter tragen zur Verbreitung der Nachricht von der märchenhaften Energiequelle bei und drucken Flügges Arbeit nach.
    Flügges Zahlen und Vergleiche wecken Begeisterung und Begehrlichkeiten. Der Physiker Nikolaus Riehl, ebenfalls ein ehemaliger Assistent von Hahn und Meitner, spricht nach der Lektüre des Flügge-Artikels zunächst mit Hahn und wendet sich anschließend direkt an das Heereswaffenamt. Er leitet die Forschungsabteilung der Berliner Auer-Gesellschaft und muss einen erheblichen Aufwand betreiben, um den Behörden gegenüber seine nichtarische Herkunft zu verbergen. Firmengründer Carl Auer erfand den Gasglühstrumpf und meldete 1906 das Warenzeichen «Osram» für elektrische Glühlampen an. Die Firma hat Erfahrung mit der Herstellung radioaktiver Zahnpasta und Leuchtfarbe. Riehl bietet den Militärs nun eine umfassende Zusammenarbeit bei der Entwicklung technischer Anwendungen der Kernspaltung an.
     
    Im Frühsommer 1939 kommt Edward Teller von Washington nach New York, um Vorlesungen an der Columbia University zu halten. Allerdings habe er, so erinnert er sich, schnell den Eindruck gewonnen, seine wahre Mission sei die eines «Friedensstifters» zwischen Enrico Fermi und Leo Szilard gewesen. Die beiden Kontrahenten reden nämlich kaum noch miteinander und wünschen sich Teller als Vermittler in einer reizbaren kollegialen Beziehung, in der der eine offenbar nicht auf den anderen verzichten kann. Die Stimmung ist seit Szilards schnöder Arbeitsverweigerung beim ersten und letzten gemeinsamen Experiment im Keller. Gegensätzlicher könnten die Temperamente kaum sein, die da aufeinandertreffen. «Fermi sagte selten etwas, das er nicht auch beweisen konnte», erzählt Teller. «Szilard wiederum konnte stets mit irgendeiner erstaunlichen Neuigkeit auftrumpfen. Fermi war bescheiden und zurückhaltend, während Szilard beim Reden ständig Befehle erteilte» [Goo:50].
    Im Juni jedoch nimmt sich Fermi Urlaub von seinem Quälgeist und reist nach Ann Arbor, Michigan, um an der inzwischen legendären Sommerschule zu unterrichten. Längst hat er mit seinen Kernspaltungsversuchen die Möglichkeiten eines Universitätsinstituts ausgereizt. Hätte der gerissene Szilard den Russen nicht die 500 Pfund Uranoxid abgeluchst, wäre vermutlich schon dieses Experiment nicht mehr finanzierbar gewesen.
    Auch an anderen amerikanischen Universitäten scheint sich die ursprüngliche Aufregung über das neue nukleare Phänomen wieder gelegt zu haben. Noch sind die Kernphysiker nicht geschäftstüchtig genug, sich Sponsoren für ihre immer anspruchsvoller werdenden Forschungen zu suchen oder sich an eine Regierungsbehörde zu wenden.
    In den USA scheint Leo Szilard inzwischen tatsächlich der Einzige zu sein, der sich ernsthaft den Kopf über den richtigen Ansatz zur Erzeugung einer Kettenreaktion im Uran zerbricht. Höchst bedauerlich findet er es allerdings, dass er nicht, wie gewohnt, aus der Badewanne springen und direkt in Fermis Labor flitzen kann, um mit ihm über seine neuesten Ideen zu diskutieren. Stattdessen schreibt er jetzt dem entflohenen Kollegen fast jeden zweiten Tag einen Brief nach Ann Arbor, bis der schließlich einsehen muss, dass er dem mitteilungsbedürftigen Ungarn auch in knapp tausend Kilometern Distanz nicht entkommen kann. Und natürlich lässt sich ein Feuerkopf wie Szilard nicht vom begrenzten Budget einer amerikanischen Universität die Größenordnungen diktieren, in denen er denken muss, um erfolgreich zu sein. «Für den Anfang habe ich an fünfzig Tonnen Kohlenstoff und fünf Tonnen Uran gedacht» [Lan:196], kündigt er Fermi seine Ideen für einen neuen Großversuch an. Nahezu reiner Kohlenstoff in Form von Graphit soll als «Moderator» das Uran ganz umschließen und die

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