Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
bei der Kernspaltung frei werdenden Neutronen abbremsen. Szilard weiß, dass Fermi für diese Aufgabe eigentlich «schweres Wasser» bevorzugt. Darin ist der Wasserstoff durch eine Atomsorte namens Deuterium ersetzt, das um ein zusätzliches Neutron «schwerer» ist als Wasserstoff. Welchen Einfluss Szilards Vorstellungen auf Fermi haben, geht aus einem Brief hervor, den er eine Woche später an Herbert Anderson schickt. Erstaunlich freimütig gibt Fermi zu, er habe Szilards Vorschlag nicht in allen Einzelheiten verstanden. Aber: «Ich halte das Experiment für außerordentlich wichtig und finde, wir sollten es machen» [Lan:196].
Robert Oppenheimer denkt in diesen Sommerwochen über eine seltsame Konsequenz der allgemeinen Relativitätstheorie nach. Wenn nämlich ein sterbender Stern kollabiert und im anschließenden Schrumpfprozess eine bestimmte Größe unterschreitet, wird sein Gravitationsfeld so stark, dass er sein eigenes Licht nicht mehr abstrahlen kann. Sollte es tatsächlich solche unsichtbaren «Schwarzen Sonnen» im Weltraum geben? Oppenheimer schreibt gerade mit seinem Studenten Hartland Snyder an einem Artikel, der kurz vor dem Abschluss steht. Zur gleichen Zeit befindet sich Werner Heisenberg auf einer vierwöchigen Vortragsreise durch die USA, um seine neue Theorie zur Höhenstrahlung vorzustellen. Dabei geht es um kosmische Strahlen, die aus dem Weltall auf die Erdatmosphäre treffen und dort, etwa 20 Kilometer über dem Meeresspiegel, in einem Schauer von Sekundärteilchen explodieren.
Über die genaue Zahl und die Beschaffenheit dieser Teilchen liegen die Forscher miteinander im Streit. Die Säle sind überfüllt, die Debatten werden hitzig geführt. Heisenberg selbst erinnert sich an einen besonders heftigen Schlagabtausch mit Oppenheimer in Chicago [Cas:504], der gegenwärtig sein Hauptinteresse offenbar auf kosmische Prozesse gerichtet hat. Aber in diese theoretischen Differenzen mischen sich unüberhörbar Verständnislosigkeit und Kritik an Heisenbergs Haltung gegenüber dem Naziregime. Nahezu jedes Gespräch mit den Kollegen läuft auf eine Emigrationsdebatte hinaus.
Seit Jahren schon wird der Erneuerer der Quantenphysik mit lukrativen Angeboten aus Amerika überhäuft. Er hat sie alle kategorisch abgelehnt mit dem kryptischen Hinweis, sein Heimatland brauche ihn und er trage Verantwortung für seine Studenten. Jetzt, da er vor Ort ist, erneuert die University of Chicago ihre Offerte und bietet ihm eine Professur an – ohne Erfolg. Auch in Ann Arbor macht Heisenberg Station und begegnet Enrico Fermi im Haus des Physikers Samuel Goudsmit [Gou:263]. Fermi beschwört ihn, in der freien Welt einen Neuanfang zu wagen. Er warnt ihn vor den schrecklichen Konsequenzen der Kernspaltungsforschung in einem Land, das unweigerlich gerade auf einen neuen Krieg zusteuere. Heisenberg hat keine rationalen Argumente zu bieten, die ein Vernunftmensch wie Fermi verstehen könnte: «Jeder von uns ist in … einen bestimmten Sprach- und Denkraum hineingeboren, und … gedeiht doch am besten in diesem Raum und kann auch hier am besten wirken … Die Menschen müssen lernen, die Katastrophen so weit wie möglich zu verhindern, aber nicht einfach vor ihnen zu fliehen. Fast möchte man sogar umgekehrt verlangen, dass jeder die Katastrophen im eigenen Land auf sich nehmen müsse» [Hei 2 :201 f.].
Zum Abschluss seiner Amerikareise hält sich Heisenberg noch einmal in New York auf. Auch Columbia-Schatzmeister George Pegram versucht ein letztes Mal, seinem Wunschkandidaten das Leben an der Columbia University schmackhaft zu machen. Vergebens. Werner Heisenberg hat Heimweh und möchte «die gräulich feuchte Hitze … die holprigen Klaviere … und die schwülen Hotelzimmer» endlich hinter sich lassen. Er hat die amerikanische Gastfreundschaft genossen, hat ausgiebig musizieren können und auf einem Empfang sogar eine Chanteuse am Klavier begleitet. Deren «raffinierte französische Lieder» entlarvt der strenge Klassikfan allerdings als «Champagner mit Sahne». Zwei Tage vor der Abfahrt des Schiffes isst er in einem Restaurant auf der 86. Etage des Empire State Building zu Mittag. An seine Frau Elisabeth schreibt der Alpinist: «Diese hohen Türme, die wie riesige Felsen in der Stadt stehen, gefallen mir mehr als alles andere. Dagegen sind unsere Bauwerke nur Spielzeug … [Denke] am ehesten an die Felsen in den Dolomiten … Und in der Nacht sind es ganz unwahrscheinliche Märchenschlösser mit
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