Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
radiochemische Fachkenntnisse, die zur Entdeckung der Kernspaltung geführt haben, sowie seine im Weltkrieg erworbene Praxis im Umgang mit Giftgas prädestinieren ihn für kriegswichtige Forschung. Zumal Hitler bereits am 5. September Vorbereitungen für den Gaskrieg anordnet. So bleibt schon mit diesem konventionellen Rüstungsauftrag Hahns jüngeren Mitarbeitern der Weg in die Schützengräben erspart. Zwei Wochen nach Kriegsbeginn nimmt Hahn dann auch am ersten Expertentreffen des Uranvereins unter Diebners Leitung teil, der die Parole ausgibt: «Es geht um die Atombombe» [Sim 3 :283]. Am Ende der Diskussion steht der begnadete Experimentalphysiker Walther Bothe auf, dessen Versuchsanordnung mit Beryllium James Chadwick zur Entdeckung des Neutrons inspirierte, und sagt: «Meine Herren, es muss getan werden.» Und Hans Geiger, der die Radioaktivität hörbar gemacht hat, fügt hinzu: «Wenn auch nur die geringste Chance besteht … müssen wir sie unter allen Umständen verfolgen» [Bag:23]. Um die Uranmaschine in Gang zu bringen, ist – das erkennt Hahn sofort – eine Kooperation mit der Auer-Gesellschaft unerlässlich. Sein Freund Quasebart kann problemlos tonnenweise Uran beschaffen.
Beim Treffen des Uranvereins am 26. September in Berlin, zu dem erstmals auch Heisenberg aus Leipzig angereist ist, muss Kurt Diebner seinen Professoren ein Zugeständnis machen. Statt der von ihm geplanten Zusammenführung von Forschern und Material an einem Ort, möchten die Wissenschaftler an ihren Instituten in Berlin, Hamburg, Heidelberg, Leipzig, München und Wien bleiben, um in gewohnter Umgebung ihre jeweilige Aufgabe zu lösen. Insgesamt sind etwa 70 Mitarbeiter in neun Arbeitskreisen am Uranprojekt beteiligt. Otto Hahn kann zu diesem frühen Zeitpunkt bereits detaillierte Pläne für den ersten deutschen Versuch im großen Stil vorlegen. Mit der Bestrahlung von zwei Tonnen Uransalz, die ihm Quasebart zugesichert hat, will er die Maximierung der Neutronenausbeute in Angriff nehmen. Schon einen Tag nach der Konferenz lässt sich Diebner in Hahns Institut blicken, um Detailfragen zu klären. Mit von der Partie sind Flügge, Meitners Nachfolger Mattauch und Trennungsspezialist Straßmann. «Es gibt letztlich keinen theoretischen oder experimentellen Aspekt des [Uran]projekts, an dem die Forschung des Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie nicht beteiligt [ist] …» [Sim 3 :287].
Diebner selbst beschlagnahmt kurzerhand das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Dahlem für das Heereswaffenamt und richtet es als Schaltzentrale für das geheime Uranprojekt ein. Der bisherige Direktor, der Niederländer Peter Debye, soll seinen Posten nur behalten dürfen, wenn er deutscher Staatsbürger wird. Er zieht das amerikanische Exil vor. Nobelpreisträger Max von Laue sowie Carl Friedrich von Weizsäcker und der 29-jährige Karl Wirtz bleiben auch unter Diebners Regie am Institut. Zum wissenschaftlichen Berater des neuen Geschäftsführers wird Werner Heisenberg ernannt, der allerdings vorerst in Leipzig bleibt. Außerdem stehen Diebner mit der Heeresversuchsstelle Gottow südlich von Berlin einige Quadratkilometer Sand, Heidekraut und Mischwald für Freiluftversuche zur Verfügung.
Keine zwei Monate ist es her, dass Heisenberg bei der Begegnung mit Fermi in Ann Arbor seiner Überzeugung Nachdruck verliehen hat, dass «der Krieg zu Ende sein wird, bevor es zu einer technischen Anwendung der Atomenergie kommt» [Hei 2 :201]. Schließlich ist er mit der Bohr-Wheeler-Studie vertraut und kennt die einschüchternde Dimension der technischen Schwierigkeiten, eine große Menge spaltbarer Uran-235-Atome zu gewinnen. Vielleicht gibt ihm ja diese nüchterne Sicht genügend Gelassenheit, sich der Aufgabe zu widmen, die Kurt Diebner ihm gestellt hat. Die Erarbeitung der theoretischen Grundlagen für die Nutzung der Atomenergie soll sein spezieller Dienst für das Vaterland sein, der ihn vor dem Grauen des Kampfes im Feld bewahrt. Und da dieses Prestigeprojekt gleichzeitig eine intellektuelle Herausforderung ersten Ranges ist, entwickelt Heisenberg auch die nötige Dynamik, um sich wieder einmal als der Beste seines Fachs zu beweisen. Schon zehn Wochen später, am 6. Dezember 1939, einen Tag nach seinem 38. Geburtstag, legt er Diebner den ersten Teil seiner Machbarkeitsstudie über eine funktionierende Uranmaschine vor. Darin kommt er zu dem Schluss, dass eine Energieerzeugung im großen Stil möglich sei, wenn es gelänge, Uran-235 in
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