Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Sie sollen die Energien der beim Spaltprozess entstehenden Neutronen messen und ihre Auswirkungen auf die Kettenreaktionen untersuchen. Welche Bremssubstanz eignet sich am besten für die Multiplikation der Spaltneutronen? Außerdem muss die Mindestmenge der Materialien herausgefunden werden, die die gewünschte «Selbsterregung» des Reaktors hervorruft, ohne dass er sich selbst «in die Hölle sprengt», wie Oppenheimer es formuliert hat.
Als Kurt Diebner Heisenbergs Bericht liest, produziert die Auer-Gesellschaft in ihrer neuen Fabrik in Oranienburg bereits die ersten Zentner hochreinen Uranoxids aus St. Joachimsthaler Uranerz. Beim direkten Kontakt während des Verarbeitungsprozesses lösen schon geringe Dosen des pulverisierten Metalls – «ein Gift erster Ordnung», wie Otto Hahn bestätigt – beim Einatmen oder Verschlucken Vergiftungen aus. Diese chemische Wirkung auf Lunge und Magen-Darmtrakt ist gefährlicher für den menschlichen Organismus als die radioaktive Strahlung. Für die riskante Arbeit werden zweitausend weibliche Häftlinge des nahe gelegenen Konzentrationslagers Sachsenhausen abkommandiert [Sim 2 :26]. Der ungeduldige Heisenberg fordert mindestens eine Tonne des wertvollen Materials, während Kollege Harteck in Hamburg auf die versprochenen 300 Kilogramm für seine Versuche wartet.
Der 1902 in Wien geborene Physikochemiker Paul Harteck findet die Wort- und Schriftbeiträge von Heisenberg und Weizsäcker überheblich. Als reine Theoretiker könnten sie keine praktischen Erfahrungen vorweisen und ließen Fingerspitzengefühl vermissen, was die Details der «Reaktorgeometrie» betrifft, erregt sich Harteck [Sca 2 :108]. Schon lange vor der Entdeckung der Kernspaltung hat er sich mit langsamen Neutronen beschäftigt. Er kennt ihre bevorzugten «Wege», weiß, wie und wo sie abgebremst und absorbiert werden. Harteck hat neutronale Prozesse nebenbei studiert, weil er geahnt hat, dieses Wissen könnte einmal nützlich werden. Er hat seine außerplanmäßigen Studien mit einem intuitiven «Untergefühl» [Sca 2 :104] aufgenommen und vergleicht sie mit Klavieretüden – Fingerübungen, die einmal zu schöner Musik führen würden. Und plötzlich tauchen die Schöngeister Heisenberg und Weizsäcker aus dem Nichts auf, wollen den Uranverein dominieren und führen sich auf, als seien sie die Einzigen auf der Welt, die etwas von Kernphysik verstünden. In Hartecks Augen überschätzen die beiden Theoretiker ihre praktischen Fähigkeiten.
Es sind nicht die einzigen Animositäten, die das Betriebsklima stören. Die Einsätze sind hoch, die wissenschaftliche Neugier ist größer als die moralischen Bedenken gegen eine Superwaffe für ein verbrecherisches Regime. Jeder will der Erste sein, der in Kriegszeiten einen «selbsterregten» Reaktor vorführen kann. Und wenn Heisenberg mitmischt, kommt noch eine Extraportion sportlicher Ehrgeiz ins Spiel. Er will immer gewinnen: an der Tafel, am Schachbrett, an der Tischtennisplatte und nun natürlich auch am Uranmeiler. Aber die Konkurrenz schläft nicht. Im Mai 1940 steht Harteck kurz vor der Verwirklichung einer brillanten Idee. Sie ist ihm ausgerechnet beim Studium der Heisenberg’schen Reaktortheorie gekommen, die hochreinen Kohlenstoff als Moderator verlangt. Um die Verunreinigungen zu minimieren, will Harteck jetzt feste Kohlensäure – Trockeneis – als Moderator benutzen und Uranoxid darin einbetten. Handelsüblicher Graphit ist mit Bor und Cadmium verunreinigt. Selbst ein nach kommerziellen Maßstäben hochreiner Graphit mit einem Teil Bor auf 500 000 Teile ist noch nicht rein genug, um als Moderator für die Uranmaschine in Frage zu kommen. Paul Harteck weiß aus Erfahrung, dass er mit gepresstem Kohlensäureschnee die Unreinheiten erheblich reduzieren kann [Ber 1 :26; Sca 1 :112].
Er nutzt seine guten Beziehungen zur I.G. Farben, die ihm kostenlos fünfzehn Tonnen Trockeneis – einen ganzen Eisenbahnwaggon voll – zur Verfügung stellen will. Das Heereswaffenamt erklärt sich auch bereit, den Bahntransport von der Kohlensäurefabrik Oppau bei Ludwigshafen nach Hamburg zu bezahlen. Nur Hartecks Forderung nach mindestens 300 Kilogramm «Präparat 38» kann Diebner nicht erfüllen. Der inzwischen geläufige Tarnname geht auf die Uranoxid-Formel U 3 O 8 zurück. In seiner hochreinen Form ist der begehrte Stoff zu diesem Zeitpunkt noch immer eine Rarität in Deutschland. Diebner sieht sich mit der undankbaren Aufgabe konfrontiert, die
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