Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
zu einer kurzen und zu einer langen Briefversion ausarbeiten will. Sie telefonieren miteinander, tauschen die Manuskripte per Post aus, bis Szilard schließlich die von Coatesworth fehlerfrei getippten Briefe an Einstein zurückschickt, damit der sie unterschreiben kann. Währenddessen arbeitet Werner Heisenberg auf der MS Europa unermüdlich an der Verbesserung seines Rückhand-Topspins.
Am 1. September 1939 erscheint in der Zeitschrift Physical Review die große Gemeinschaftsarbeit von Niels Bohr und John Wheeler über den «Mechanismus der Kernspaltung». Hier werden alle bisherigen Beobachtungen über das neue Phänomen zusammengefasst und mit einer ersten umfassenden Theorie gewürdigt. Dabei festigt Bohr seine Ansicht, dass ausschließlich die seltene Uranatomsorte mit 235 Kernteilchen gespalten wird. Unter dieser Bedingung kann eine funktionierende Kettenreaktion nur am Ende einer aufwändigen Trennung der beiden Atomsorten im großindustriellen Maßstab stehen. Am selben Tag veröffentlichen Robert Oppenheimer und Hartland Snyder ihre aparte Deutung der allgemeinen Relativitätstheorie. Einsteins Gleichungen lassen auf die Existenz schwarzer Sonnen im All schließen, die ihr Licht nicht mehr abstrahlen können.
Seit Tagen schon werden überall im Deutschen Reich Lebensmittelmarken ausgegeben. Junge Männer werden von der Arbeit und sogar nachts aus den Betten geholt. Sie werden in die nächste Kaserne transportiert und müssen sich in einheitlich graugrünes Tuch kleiden. Autos werden beschlagnahmt und aufgezäumte Pferde aus den Ställen geführt und in Viehwaggons verladen. Nachts müssen schon die Fenster verdunkelt werden. Manche Hausfrau ahnt noch nicht, dass das «Ersatzmehl» im Laden nicht vom profitsüchtigen Kaufmann, sondern auf Veranlassung des Regimes mit feingemahlenen Sägespänen gestreckt ist. Die Hamburger Firma Ehlers schaltet in deutschen Zeitungen Anzeigen für ihr Spitzenprodukt «Benefactor». Unter der Überschrift «Mehr Haltung!» wird der bewährte «Geradehalter» angepriesen – eine Mischung aus Zaumzeug und Korsett für den Oberkörper, dessen Lederriemen stramm über die Schulterblätter gezogen und an einem Gurt darunter festgeschnallt werden.
Während die deutsche Wehrmacht die polnische Hauptstadt bereits eingeschlossen hat, wartet in Leipzig auch Werner Heisenberg auf seinen Einberufungsbefehl. Am 25. September bekommt er Besuch von seinem ehemaligen Assistenten Erich Bagge. Der teilt ihm mit, er müsse sich bereits am nächsten Morgen beim Heereswaffenamt in Berlin melden. Bagge ist inzwischen Mitarbeiter von Kurt Diebner, dem Sprengstoffexperten des Heereswaffenamtes. Sofort nach Ausbruch des Krieges hat Diebner das Uranprojekt des Reichsforschungsrats an sich gerissen und den Initiator Abraham Esau kaltgestellt. Dessen heftige Proteste bewirken nichts. Der Kernphysiker und Waffeningenieur Diebner hält die Kernspaltung für viel zu wichtig, um die Leitung des Uranvereins einem Rundfunktechniker zu überlassen. Erich Bagge ist Spezialist für den Kernzerfall und hat seinen neuen Chef dazu angeregt, in die Gruppe von Experimentalphysikern und Chemikern auch einen Theoretiker zu holen. Dabei hat er den Namen Heisenberg ins Spiel gebracht [Wal 1 :32] und darf nun dem wohl prominentesten deutschen Physiker die frohe Botschaft persönlich überbringen, dass ihm die Ostfront erspart bleibt. Heisenberg soll die theoretischen Grundlagen für eine Energie und Waffenstoff liefernde Uranmaschine ausarbeiten.
In den USA halten lediglich drei Ungarn und ein Ex-Deutscher eine kontrollierbare Kettenreaktion für möglich. Noch bangen sie um ihren politischen Einfluss auf die amerikanische Regierung, denn selbst Präsidentenberater Alexander Sachs braucht acht Wochen, um einen Termin im Weißen Haus zu ergattern. Inzwischen stürzt sich der deutsche Uranverein als erste regierungsfinanzierte Organisation in das dubiose Abenteuer, die Bindungsenergie der Atome freizusetzen.
Schon einen Tag nach Kriegsbeginn entwickelt Otto Hahn Eigeninitiative und kümmert sich um Rüstungsaufträge für sein Institut. Er nimmt Kontakt mit Karl Quasebart auf. Der sitzt im Aufsichtsrat der St. Joachimsthaler Bergbaugesellschaft und hat ihm im August noch Radium besorgt. Als Vorstandsvorsitzender der Auer-Gesellschaft, Deutschlands größter Gasmaskenherstellerin, lässt Quasebart die Maskenfilter jetzt im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie mit radioaktiven Tracermethoden testen. Hahns
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