Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
wenigen verfügbaren Zentner einigermaßen gerecht unter seinen eifrigen Atomköhlern in Berlin, Leipzig und Hamburg aufzuteilen. Er verdonnert Harteck dazu, sich mit seinem Lieblingsfeind Heisenberg über den Zugriff auf den Brennstoff selbst zu einigen. Obendrein könnte Harteck die warme Jahreszeit zum Verhängnis werden. Die Zeit laufe ihm davon, lässt er Heisenberg wissen und beschwört ihn, sich von einem Teil seines Uranschatzes kurzfristig zu trennen. Denn die Kohlensäureblöcke träfen bald in Hamburg ein, seien aber schon nach gut einer Woche dahingeschmolzen. Anschließend bestehe leider keine Aussicht mehr auf Nachschub. Dann sei es bereits Anfang Juni, und die I.G. Farben müsste ihre Trockeneisvorräte zur Kühlung von Lebensmitteln einsetzen, was in Kriegszeiten natürlich Vorrang habe. Dennoch: Selbst als Heisenberg seinen Versuch aufschiebt, springt nicht mehr als ein Zentner Präparat 38 für Harteck heraus. Dafür chauffiert Nikolaus Riehl, Forschungsleiter der Auer-Gesellschaft, persönlich noch knapp drei Zentner frisch aufbereitetes Uranoxid Joachimsthaler Provenienz nach Hamburg [Wal 1 :40]. Harteck teilt Diebner mit, er wolle den ersten deutschen Uranmeiler in einer «Judenkiste» aufschütten. So nennt man die riesigen Umzugskisten jüdischer Emigranten [Sha 1 :114].
Im 7. Stockwerk des Instituts für Physik der Columbia University herrscht business as usual . Wer in diesen Apriltagen des Jahres 1940 Enrico Fermi sprechen will, muss – wie vor Jahren der vornehme spanische Besucher in Rom – damit rechnen, zunächst einmal nur dessen kahler gewordenen Hinterkopf, seinen flatternden Kittel und die Absätze seiner Schuhe zu sehen. Fermi hält sich auch in New York für den besten Athleten in seinem Team. Und so hat er die flotten 30-Meter-Sprints entlang des Korridors zum Geigerzähler erneut zur Chefsache erklärt. Nach der Bewilligung der 6000 Dollar aus dem Etat von Heer und Marine sind schon viele Kisten mit Graphitziegeln im Labor eingetroffen – insgesamt vier Tonnen. Bis zuletzt hat Leo Szilard mit den Herren von der Union Carbon and Carbide Company um günstige Preise gefeilscht. Fermi und seine Mitarbeiter stapeln die Graphitziegel zu drei Meter hohen schwarzen Säulen auf, bis ihre Gesichter vom Kohlenstaub bedeckt sind. Herbert Anderson und Fermi wollen erst einmal beobachten, wie Graphit und Neutronen miteinander reagieren.
Am Fuß des Graphitmeilers steckt die bewährte Radon-Beryllium-Quelle in einem Paraffinblock, während Schlitze im Graphit für Rhodiumfolien gedacht sind, die im Inneren des Meilers die Neutronen einfangen und so ihre Eindringtiefe aufzeichnen sollen. Je tiefer und weiter die Neutronen ins Graphit eindringen, umso besser eignet sich der Stoff als Bremssubstanz für einen künftigen Reaktor. Da Rhodium eine Halbwertszeit von 44 Sekunden hat, muss jeder Handgriff sitzen. Nach einer Minute Bestrahlung entfernt Anderson auf ein Handzeichen die Neutronenquelle, und Fermi schnappt sich, mit der Stoppuhr in der Hand, die Rhodiumfolie. Er hat zehn Sekunden Zeit für seinen Sprint ins Büro und noch einmal fünf Sekunden, um die Folie unter dem Geigerzähler in Position zu bringen und den Bleideckel zu schließen, bevor das Gerät anspringt. «Ich sehe noch immer das Funkeln in seinen Augen beim ersten Klicken des Zählers», erinnert sich Anderson. «Er nickte mit dem Kopf zu diesem Rhythmus. Das Phänomen der Radioaktivität begeisterte ihn stets von Neuem» [And:12].
Paul Hartecks «Judenkiste» ist aus Holz gezimmert, zwei Meter breit, zwei Meter tief und zwei Meter hoch. Sie steht, für jeden Fußgänger sichtbar, zwischen Ziergebüsch und Klinkerhauswand des Instituts für Physikalische Chemie in der Jungiusstraße mitten in Hamburg. In diesem hochgeheimen Freiluftmeiler stecken die Trockeneisblöcke. Das Uranoxidpulver schütten Harteck und seine Mitarbeiter in fünf ausgesparte senkrechte Schächte. Ihre Sperrholzverkleidung hält das Eis auf Distanz. Neutronenquelle und Messsonde werden neben dem mittleren Schacht positioniert [Sca 1 :114]. In dieser letzten Maiwoche werden für Harteck die schlimmsten Befürchtungen wahr. Die Messungen sind enttäuschend. Der Nachweis einer Neutronenvermehrung, die er mit etwa 25 Prozent veranschlagt hat, bleibt ihm verwehrt. 185 Kilogramm Präparat 38 sind einfach zu wenig Brennstoff, um ein sinnvolles Experiment zu machen und vernünftige Resultate zu erzielen. Anfang Juni sind seine fünfzehn
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