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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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entgehen, nur um dieses Schicksal dann durch mein eigenes Verschulden zu
erleiden, wäre wahrlich die größte Ironie, die ich mir vorstellen konnte, dachte ich, während ich den Strick über der Kerze drehte. Er begann plötzlich zu knistern, und ein heißer Schmerz schoss durch meine rechte Hand: Der Knoten hatte Feuer gefangen, und ich schrie leise in den Knebel, als die Flamme meine Hand und meinen Ärmel versengte, aber endlich gelang es mir, mich loszumachen. Die brennenden Überreste des Stricks fielen zu Boden, wo ich sie rasch austrat. Die Stimmen draußen im Gang verstummten abrupt, und ich wusste, dass ich jetzt nur eine einzige Chance hatte. Ohne auf den Schmerz in meiner Hand zu achten, riss ich den schweren silbernen Kerzenleuchter vom Altar, blies die flackernde Flamme aus und schwang ihn just in dem Moment in die Luft, in dem Humphrey die Tür aufriss und den Bruchteil einer Sekunde mit offenem Mund wie erstarrt stehen blieb.
    Dieser Moment reichte mir. Ehe er die Arme heben konnte, hieb ich ihm den massiven Fuß des Leuchters gegen die Schläfe. Ich hatte gut gezielt; ein Ekel erregendes Knirschen ertönte, und Humphrey stürzte rücklings zu Boden. Blut schoss aus der Platzwunde und verfärbte sein helles Haar. Er hatte das Bewusstsein verloren. Die Witwe hob voller Angst die Hände und schüttelte heftig den Kopf. Ihre Lippen bewegten sich stumm. Ich drohte ihr mit dem Kerzenleuchter, woraufhin sie sich in eine Ecke kauerte, zerrte das Messer aus Humphreys Gürtel, warf der Witwe einen letzten warnenden Blick zu und stürmte in den Gang hinaus und dann die Stufen hinunter, wobei ich jeden Moment damit rechnete, Jenkes zu begegnen, weshalb ich das Messer auf Brusthöhe vor mich hielt. Dann spähte ich über meine Schulter, um zu sehen, ob sich Humphrey weit genug erholt hatte, um mir zu folgen, aber wie es aussah, war das Glück endlich auf meiner Seite; es gelang mir, unbemerkt den Hof zu überqueren und auf die Straße hinauszulaufen.
    Der Himmel war noch immer dunkel, nur ein paar Mondlichtstreifen schimmerten zwischen den Wolken. Ich lehnte mich kurz gegen eine Hauswand, um zu verschnaufen, und merkte
erst jetzt, dass ich in meiner Hast vergessen hatte, den Knebel zu entfernen. Ich zog ihn aus dem Mund, hielt ein Ende mit den Zähnen fest und wickelte den Schal behutsam um meine verbrannte Hand. Vor Schmerz wurde mir so schwindelig, dass ich fürchtete, meine Beine würden unter mir nachgeben. Als die Benommenheit verflogen war, wurde mir bewusst, dass meine Börse gestohlen worden war und ich kein Geld mehr besaß, um die Wächter am Tor zu bestechen. Schlimmer noch – was, wenn sie Jenkes gut kannten und von ihm dafür bezahlt worden waren, nach mir Ausschau zu halten? In dieser Stadt konnte man nie wissen, wer ein Freund und wer ein Feind war.
    Der quadratische Turm der Kirche St. Michael am Nordtor erhob sich über der Stadtmauer und diente mir als Orientierungspunkt, als ich unter den Dachtraufen der Häuser entlangschlich, bis ich gezwungen war, mich aus meiner Deckung zu lösen und über die breite Straße zu eilen, die parallel zur Stadtmauer verlief. Ich blickte mich wild nach allen Seiten um, während ich sie überquerte; rechnete jeden Moment damit, Jenkes aus dem Schatten auftauchen zu sehen, aber die Straße blieb still und leer. Am Tor machte ich Halt. Mir fiel kein anderer Weg ein, um in die Stadt zurückzugelangen, die Mauer war viel zu hoch, um überwunden zu werden, und alle anderen Tore waren zu dieser Stunde gleichfalls bewacht. Mir blieb nichts anderes übrig, als entweder bis zum ersten Tageslicht zu warten, wenn die Tore für die fahrenden Händler geöffnet wurden, was vermutlich zur Folge hätte, dass Jenkes oder Humphrey mich einholten, oder die Wächter davon zu überzeugen, dass ich sie bereits ausreichend bezahlt hatte, damit sie mich wieder einließen. Mit meiner gesunden Hand hieb ich gegen die kleine, in das hohe Eichenholztor eingelassene Tür, erhielt aber keine Antwort. Erst als ich heftiger klopfte und nach dem Wächter rief, erschien ein schlaftrunkenes Gesicht hinter dem Eisengitter. Der Riegel wurde zurückgeschoben und die Tür geöffnet.
    Ich murmelte einen Dank, überzeugte mich noch einmal davon, dass die dunklen Straßen verlassen dalagen, und lief,
Humphreys Messer fest umklammert haltend, zur St. Mildred’s Lane hoch. Noch nie war ich so dankbar gewesen, den Turm des Lincoln über mir aufragen zu sehen. Behutsam klopfte ich an das kleine Fenster

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