Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
Vom Netzwerk:
Argwohn erwecken. Er nickte mitfühlend und schielte verstohlen zur Tür.
    »Ob ich wohl Eure Fesseln ein wenig lockern darf, Sir?« Sein Blick wanderte erneut zur Tür, als könne Jenkes jeden Moment in den Raum gestürzt kommen. »Nicht ganz losmachen, nur so weit lockern, dass Ihr keine Schmerzen mehr leidet. Schließlich könnt Ihr mir ja nicht entkommen, Ihr seid so klein, und ich habe außerdem ein Messer.« Er lachte, obwohl ein furchtsamer
Unterton darin mitschwang, und ich stimmte so herzhaft mit ein, als gäbe es nichts Absurderes als die Vorstellung, ihn überwältigen zu wollen. In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, wie ich fliehen sollte, selbst wenn es mir gelingen würde, meine Beine zu befreien. Konnte ich meine Arme nicht gebrauchen, so vermochte ich nichts auszurichten, und sogar wenn ich meine Arme zu Hilfe nehmen könnte, wäre ich Humphrey im Kampf vermutlich unterlegen. Während er noch überlegte, ob er meine Fesseln lockern sollte oder nicht, und ich mich bemühte, meine Befreiungsversuche vor ihm zu verbergen, hörten wir draußen im Gang das unverwechselbare Knarren von Bodendielen und erstarrten beide. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Jenkes schon so bald zurückkehren würde, und mein Fluchtplan zerplatzte, bevor er richtig Gestalt angenommen hatte. Ich holte tief Atem, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug. Das war es also, dachte ich. Damals in Italien, in San Domenico Maggiore, hatte ich um eines Buches willen die Gefahr der Todesstrafe auf mich genommen. Jetzt, nach so vielen Jahren der Flucht, sah ich dem Tod erneut ins Auge, und das wieder, weil ich nach einem Buch gegiert hatte. Aber ich beschloss, mich nach Kräften zu wehren. Wenn ich schon sterben musste, dann wenigstens nicht wie ein Feigling unter Jenkes’ spöttischem Blick.
    Humphrey besann sich, als die Schritte näher kamen, griff nach Jenkes’ Leinenschal und stopfte ihn mir wieder in den Mund, wenn auch nicht mehr so fest wie vorher. Im selben Moment löste sich der Knoten unter meinen tastenden Fingern, und meine Fußfessel lockerte sich. Die Schritte machten vor der Tür Halt, und ein zaghaftes Klopfen ertönte, gefolgt von einer Frauenstimme.
    »Humphrey? Bist du das?«
    Humphrey stieß vor Erleichterung hörbar den Atem aus, zog sich auf die Füße hoch und öffnete die Tür. Davor stand die Witwe Kenney in ihrem Nachtgewand, einen Schal um die Schultern gelegt und mit einer Kerze in der Hand. Sie sah erst
Humphrey und dann mich an, registrierte meinen jämmerlichen Zustand und schnalzte missbilligend mit der Zunge.
    »Dieser Jenkes«, schnaufte sie, dabei bedachte sie mich mit einem Blick, als wäre Jenkes eine ungezogene Katze und ich eine tote Maus, die er auf ihren sauberen Fußboden hatte fallen lassen. »Wozu hat er dich jetzt wieder angestiftet, Humphrey?«
    Der Junge ließ den Kopf hängen, und Witwe Kenney bedeutete ihm, ihr zur Tür zu folgen.
    »Ich muss kurz mit dir sprechen.« Sie musterte mich einen Moment lang, als erwäge sie, wie gefährlich es war, mich unbewacht zurückzulassen, dann schien sie zu dem Schluss zu kommen, dass nichts passieren konnte. »Ich habe ihm gesagt, ich dulde nicht, dass in meiner Schänke Blut vergossen wird«, zischte sie, während sie Humphrey in den Gang hinausschob. »Und du solltest es besser wissen, Humphrey Pritchard.« Seine protestierende Antwort verstand ich nicht, aber dass es sich um einen eindringlichen Wortwechsel handelte, war auch durch die geschlossene Tür zu vernehmen.
    Jetzt galt es rasch zu handeln. Da ich mein Tun nicht mehr vor Humphrey verbergen musste, befreite ich meine Knöchel rasch von den Fesseln, raffte mich mühsam auf und hinkte durch den Raum auf den provisorischen Altar zu, auf dem die Kerzen fast vollständig heruntergebrannt waren. Ich kehrte dem Altar den Rücken zu und versuchte, den Knoten, der meine Handfesseln zusammenhielt, über die Flamme zu halten, um ihn durchzuschmoren, aber der Strick war widerstandsfähiger, als er aussah, und die Flamme schwach, sodass ich bezweifelte, dass sich der Knoten lösen würde, bevor Humphrey zurückkam und mich ertappte. Draußen im Gang wurden die Stimmen immer lauter. Da ich nicht sehen konnte, was ich tat, versengte ich mir die Hände und war dieses eine Mal dankbar für den Knebel in meinem Mund, der mein Stöhnen dämpfte. Meine größte Furcht war, dass ich die Kerze umstieß und meine Kleider in Brand gerieten – dem Flammentod der Inquisition zu

Weitere Kostenlose Bücher